Moskau Russlands wohl jüngster Anti-Kriegs-Demonstrant hat seine eigene Festsetzung offensichtlich verschlafen. Dick eingepackt liegt das wenige Monate alte Baby in seinem Kinderwagen, um ihn herum stehen mehrere Polizisten. Seine Mutter ist in der Region Tuwa mitsamt dem Säugling zu einer Kundgebung gegen die von Kremlchef Wladimir Putin angeordnete Teilmobilmachung gekommen.
Nun sitzt sie in einem Gefangenentransporter, und die Beamten wirken sichtlich überfordert, was sie mit dem Kind tun sollen. In sozialen Netzwerken wird das Video von der bizarren Festnahme in den vergangenen Tagen vielfach geteilt. Und auch andernorts stellen gerade Frauen Russlands Sicherheitsapparat in diesen Tagen vor besondere Herausforderungen.
Rund 300.000 Reservisten will Putin an die Front in die Ukraine schicken, um dort gerade erst annektierte Gebiete zu halten beziehungsweise teils überhaupt erst zu erobern. Nur: Viele Russen sehen nicht ein, warum sie ihr Leben opfern sollen für einen Krieg, den sie nie wollten und der offensichtlich aus Kreml-Sicht alles andere als nach Plan läuft. Weil sich herumgesprochen hat, dass Männern bei einer Protest-Festnahme auf der Polizeiwache direkt die Einberufung droht, stehen auf den Straßen nun vor allem Frauen.
In Dagestan im Kaukasus kreischen wütende Mütter, Schwestern und Ehefrauen von Rekruten einen Polizisten so lange an, bis der einfach davonrennt. In Machatschkala, der Hauptstadt der muslimisch geprägten Region, erklärt eine Frau einem uniformierten Mann, niemand bedrohe Russland – ganz im Gegenteil: Russland habe die Ukraine überfallen. Als der widersprechen will, übertönen umstehende Demonstrantinnen ihn mit einem Sprechchor: „Nein zum Krieg! Nein zum Krieg!“ Auch dieser Polizist zieht unverrichteter Dinge ab.
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Oft aber werden die demonstrierenden Frauen – ebenso wie Männer – brutal festgenommen, über den Boden zum Polizeibus geschleift, geschlagen. Bei den letzten landesweit größeren Protestaktionen waren der Bürgerrechtsgruppe OVD-Info zufolge mehr als 70 Prozent der Festgenommenen Frauen. „Der Protest hat jetzt ein klar weibliches Gesicht“, heißt es in der Mitteilung.
Bei einer Kundgebung in der sibirischen Region Jakutien ruft ein Pulk Frauen, der mehrere Polizisten tanzend eingekreist hat: „Nein zum Genozid!“ Denn: Rund zwei Wochen nach Beginn der Mobilmachung zeigt sich, dass keinesfalls gleichmäßig eingezogen wird in Russlands Regionen. Gerade Gebiete, in denen viele ethnische Minderheiten leben, sind hart betroffen, wie Recherchen russischer Medien zeigen.
Hoffnungen der Kremlgegner liegen auf den Frauen
So sollen in Jakutien knapp 1,7 Prozent der wehrpflichtigen Männer von der Zwangsrekrutierung zum Kriegsdienst betroffen sein – fast doppelt so viele wie im westrussischen Kursk. In einigen Dörfern soll es bereits fast jeden Sechsten getroffen haben. „Ich schaue mir die Zahlen zur Mobilisierung nach Regionen an und kann mir deren Missverhältnis nicht erklären“, schreibt die ehemalige Bürgermeisterin von Jakutsk, Sardana Awksentjewa, in einem offenen Brief.
Auch das ebenfalls sibirische Burjatien zählt zu den Regionen, aus denen nur wenige Stunden nach Putins Fernsehansprache Ende September die ersten Videos von an die Front abtransportierten Männern auftauchten. Aktivisten wie die des Instagram-Accounts „Asians of Russia“ sprechen von „ethnischen Säuberungen“ und einem systematischen Ausrotten indigener Völker.
Die Wut ist dort besonders groß, denn diese Menschen, die immer wieder dem Rassismus ethnischer Russen ausgesetzt sind, verstehen noch weniger als andere, warum sie für Putin sterben sollten. Einige Beobachter meinen, dass der Kremlchef mit seiner Mobilmachung ungewollt gesellschaftliche Spannungen und Instabilität in seinem Land befeuern könnte.
Doch weit über Burjatien, Jakutien und Dagestan hinaus liegen die Hoffnungen vieler Kremlgegner auf einen politischen Wandel in Russland nun bei den Frauen. „Frauen in Russland haben sich jahrzehntelang angewöhnt zu gehorchen, zu schweigen und nicht zu widersprechen“, sagt die Sprecherin des inhaftierten Oppositionsführers Alexej Nawalny, Kira Jarmysch, in einer Videobotschaft. „Aber jetzt haben sie sich zum Schutz ihrer Männer erhoben und haben keine Angst, die Dinge beim Namen zu nennen.“
„Ich möchte mich an alle Frauen wenden, die dieses Video schauen: Leistet Widerstand“, sagt Jarmysch. „Das ist kein fremder Kampf mehr. Es ist unserer. Erlaubt Putin nicht, Euch Eure Söhne, Eure Männer und Väter wegzunehmen.“
So berichtet das Handelsblatt zum Krieg in der Ukraine:
Und Jarmysch ist nicht die einzige, die appelliert. „Wir müssen alles dafür tun, damit die Männer Russlands bei uns bleiben“, heißt es bei der Frauen-Organisation „Weiche Stärke“. Auch Vertreterinnen der „Soldatenmütter“, die im Tschetschenienkrieg Anfang der 2000er-Jahre berühmt wurden, geben nun wieder viel beachtete Interviews.
Zugleich ertragen viele Frauen den Verlust ihrer Liebsten noch im Stillen. Ihr Vater, ihr Bruder und ihr Partner seien alle einberufen worden, erzählt die Angestellte eines Moskauer Schönheitssalons sichtlich niedergeschlagen.
Sie hätte sich gewünscht, dass die Männer die Flucht ins Ausland zumindest versuchten, sagt die junge Frau. Doch in ihrer Familie gebe es ein großes Pflichtgefühl gegenüber dem Militär. „Da heißt es: Wenn du gerufen wirst, musst du gehen.“ Auf die Frage, wofür ihre Verwandten nun kämpfen, antwortet sie mit brüchiger Stimme: „Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht…“
Mehr: Russlands Krieg und das Lukaschenko-Regime – Die Belarussen warten nur auf die passende Gelegenheit
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