Berlin Bei der Kabinettssitzung am Mittwoch erreichte der Streit der Ampelkoalitionäre auf Bundesebene seinen vorläufigen Höhepunkt. Im Mittelpunkt: die Atompolitik. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) konnte sein Gesetz, das den Weiterbetrieb von zwei süddeutschen Kernkraftwerken bis April 2023 ermöglichen soll, nicht vorlegen. Den Liberalen gehen die Pläne nicht weit genug. „Wir sind im Kabinett damit noch nicht durch“, sagte FDP-Chef Christian Lindner (FDP).
Dass Habeck und Lindner das Thema noch mal hochziehen, ist kein Zufall. Am heutigen Sonntag steht in Niedersachsen die Landtagswahl an: Seit 8 Uhr sind die Wahllokale geöffnet, bis 18 Uhr ist die Stimmabgabe möglich. Wahlberechtigt sind knapp 6,1 Millionen Menschen.
Für die Ampelkoalition in Berlin ist die Wahl ein wichtiger Stimmungstest. Und die Atomdebatte ist ein bestimmendes Wahlkampfthema.
In den jüngsten Umfragen lag die SPD (31 bis 32 Prozent) knapp vor der CDU (27 bis 30 Prozent), gefolgt von den Grünen (16 bis 19 Prozent). Die AfD (9 bis 11 Prozent) könnte sich auf ein zweistelliges Ergebnis verbessern, die FDP (5 Prozent) muss um den Verbleib im Landtag in Hannover zittern. Die Linke (3 bis 4 Prozent) lag knapp unter der Fünf-Prozent-Hürde.
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Während Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hofft, mit dem Amtsbonus wiedergewählt zu werden, und sich aus dem Atomstreit weitgehend raushält, attackieren sich Grüne und FDP immer härter.
FDP-Spitzenkandidat Stefan Birkner ist kürzlich nach Berlin gereist, um nach einer Präsidiumssitzung den Beschluss seiner Partei für eine Laufzeitverlängerung aller drei AKWs vorzustellen – also auch des Atomkraftwerks im niedersächsischen Lingen, das Habeck zum Jahresende abschalten will. Es gehe nicht an, „dass die grüne Parteibasis und die grüne Landespolitik in Niedersachsen die Energiepolitik eines ganzen Landes bestimmen“, sagt Birkner.
In der AKW-Frage gelten die niedersächsischen Grünen als besonders entschieden. Schließlich kämpfte die Partei hier jahrzehntelang gegen das Endlager Gorleben.
Hinter den Grünen liegen schwere Wahlkampfwochen
Mittlerweile hat Birkner nachgelegt. Er fordert, dass auch die beiden bereits abgeschalteten AKWs wieder ans Netz kommen, sollte das nötig sein. Lindner hat die Forderung am Mittwoch aufgenommen. Die FDP versucht, die Grünen vor sich herzutreiben.
Entsprechend allergisch reagiert man dort. Die Grünen drohen den Liberalen: entweder Habecks Reservebetrieb oder nichts. „Im Sommer konnte es der FDP nicht schnell genug gehen“, sagt die niedersächsische Bundestagsabgeordnete und Grünen-Fraktionsvizin Julia Verlinden. „Jetzt liegt der Gesetzentwurf vor, wird aber von der FDP blockiert.“ Das sei nicht mehr nachvollziehbar – und sie denke auch nicht, dass es noch einmal einen Kompromiss geben werde. „Geht das Gesetz nicht ins parlamentarische Verfahren, müssen die Atomkraftwerke 2022 wie geplant abgeschaltet werden.“
Grüne und FDP beharken sich, weil beide in einer schwierigen Lage sind: Die Grünen kämpfen gegen fallende Umfragewerte, die FDP mit der Fünf-Prozent-Hürde. Hinter dem Grünen-Spitzenduo Julia Willie Hamburg und Christian Meyer liegen schwere Wahlkampfwochen. Noch in den Sommermonaten erzielte die Partei in Umfragen stabil 22 Prozent, die SPD war in greifbarer Nähe. Nach dem guten Abschneiden in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hofften die Grünen auf den dritten Landtagswahlerfolg in diesem Jahr.
Darauf im TV-Triell Ende September angesprochen, sagte Hamburg, ein Ergebnis von 20 Prozent würde sie sehr glücklich machen. Davon ist die Partei mittlerweile allerdings weit entfernt, liegt in Umfragen bei 16 Prozent. Bleibt es dabei, könnten sich die Grünen zwar immer noch für ein historisch gutes Ergebnis feiern. Damit würden sie ihr Ergebnis von 2017 fast verdoppeln.
Für die FDP heißt es alles oder nichts
Die Euphorie aber ist verflogen. Vor allem ist unklar, ob es für eine Regierungsbeteiligung reicht. Die Grünen wollen ein Bündnis mit der SPD. Auch Weil strebt Rot-Grün an. Doch wenn die Grünen zu schwach sind, könnte er die Große Koalition fortsetzen. Oder es käme auch in Niedersachsen zu einem Ampelbündnis.
Darauf setzen die Liberalen. Sie haben sich zuletzt im Wahlkampf von der CDU und ihrem Spitzenkandidaten Bernd Althusmann abgegrenzt. Rot-Grün sei nur mit einer Stimme für die FDP zu verhindern – so lautet nun die Botschaft im Wahlkampfendspurt.
Für die Liberalen ist Niedersachsen traditionell ein Land, in dem alles und nichts möglich ist. In den 90er-Jahren verpassten sie zweimal den Einzug in den Landtag, später regierten sie ab 2003 für zehn Jahre in einer Koalition mit der CDU. Im Jahr 2013 erzielte die FDP mit 9,9 Prozent ihr historisch beste Ergebnis, flog aber trotzdem aus der Landesregierung.
>> Lesen Sie hier: Interview mit Ministerpräsident Weil – „Die Energiekrise wird für den Staat deutlich teurer als Corona“
Entsprechend mag sich auch jetzt niemand in der Parteiführung festlegen. Man hofft auf eine Regierungschance – fürchtet aber gleichzeitig die Fünf-Prozent-Hürde. Klar ist: Ein mögliches Ampelbündnis in Niedersachsen hätte schwierige Voraussetzungen. In der Energiepolitik liegen Grüne und FDP weit auseinander – sei es bei der Atomkraft oder dem Fracking der großen Gasreserven in dem Bundesland.
Und wie belastet die harte Auseinandersetzung die weitere Zusammenarbeit der Ampelkoalition im Bund? Grünen-Fraktionsvizin Verlinden sagt, der „Ton im Wahlkampf“ ändere nichts an der „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ im Bund. Doch irgendwann muss der AKW-Streit entschieden werden. Dann könnte es auf die Partei ankommen, die sich nun in Wahlkampfzeiten auffällig zurückhielt: die SPD und ihren Kanzler Olaf Scholz.
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