Berlin, Brüssel Zusätzlich zur Energiekrise droht Europa in diesem Winter eine neue Flüchtlingskrise. Die Zahlen sind schon wieder so hoch wie 2015, als Hunderttausende Kriegsflüchtlinge aus Syrien deutsche Turnhallen füllten. Seit Kriegsbeginn im Februar sind allein nach Deutschland knapp eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer geflohen.
Hinzu kommt, dass auch aus anderen Ländern wieder deutlich mehr Menschen einreisen. In den ersten neun Monaten des laufenden Jahres verzeichnete die EU-Grenzschutzagentur Frontex mehr als 200.000 versuchte illegale Einreisen, die Hälfte davon auf der Westbalkanroute. Das ist der höchste Wert seit 2016.
Die steigenden Zahlen alarmieren die Politik. Anfang der Woche hatte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) bereits einen Flüchtlingsgipfel mit Bundesländern und Kommunen abgehalten. Am Freitag berieten auch die EU-Innenminister in Luxemburg darüber.
„Was wir brauchen, ist eine europäische Lösung“, sagte Faeser in Luxemburg. Ihr österreichischer Kollege Gerhard Kramer (ÖVP) forderte, man müsse den Kampf gegen Schlepper auf der Westbalkanroute „härter und konsequenter“ führen.
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Noch ist die Lage nicht mit 2015 vergleichbar. Denn die Flüchtlinge aus der Ukraine – 70 Prozent sind Frauen – kommen vor allem privat unter, Bilder von überfüllten Turnhallen gibt es daher nicht. Dennoch warnen deutsche Kommunen vor einer Überlastung.
Städtebund fordert Verteilung der Flüchtlinge in der EU
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund forderte eine verbindliche Regelung zur Verteilung der Ukraine-Kriegsflüchtlinge in der EU. „Wir brauchen endlich einen fairen und gerechten Verteilungsschlüssel, an den sich alle EU-Länder halten. Bisher vertrauen sehr viele auf die Gutwilligkeit Deutschlands, dass einen großen Teil der Flüchtlinge in der EU aufnimmt“, sagte Hauptgeschäftsführer Gerd Landsberg dem Handelsblatt. „Nur wenn das gelingt, wird die EU insgesamt die Krise bewältigen können.“
Faeser hatte bereits im Frühjahr bei den EU-Innenministern für mehr Verbindlichkeit bei der Flüchtlingsverteilung geworben, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Man einigte sich schließlich darauf, bei der Verteilung auf eine freiwillige Aufnahme zu setzen. Faeser wollte die Flüchtlinge ursprünglich per Quote auf die EU-Staaten verteilen – dies lehnten jedoch mehrere osteuropäische Länder ab.
Nun haben die EU-Innenminister ihre Ambitionen deutlich zurückgeschraubt. Aktuell konzentrieren sie sich darauf, Serbien zu einer Änderung seiner Visapolitik zu bewegen. Belgrad lässt nämlich Menschen aus Ländern wie Indien, Türkei und Tunesien ohne Visum einreisen. Dies trägt aus Sicht der Innenminister zu den Problemen auf der Westbalkanroute bei.
„Serbien muss seine Visapraxis an die EU anpassen“, sagte Faeser. Da das Land Beitrittskandidat sei, habe man „ganz gute Argumente“. EU-Kommissionsvize Margaritis Schinas war kürzlich in Belgrad, um auf eine Verschärfung der Visapraxis zu drängen. Kommende Woche will Faeser das Thema auf der Balkankonferenz in Berlin erneut ansprechen.
Faeser bekräftigte auch, die Kontrollen an der deutsch-österreichischen Grenze um sechs Monate zu verlängern. Zudem sollen im tschechischen Grenzgebiet Schlepperversuche durch Schleierfahndung unterbunden werden. Mehrere Innenminister forderten striktere Kontrollen an den Schengen-Außengrenzen. „Man kann das nicht bilateral regeln“, sagte der slowakische Innenminister Roman Mikulec.
Doch bleibt der Eindruck des Stückwerks. Der Optimismus aus dem Frühjahr für eine europäische Lösung sei dahin, sagte der luxemburgische Innenminister Jean Asselborn. Es gebe einen „Flickenteppich an nationalen Alleingängen.“ Wenn das so weitergehe, sei dies „eine große Hilfe für die nationalistischen Parteien in Europa“.
Politikwissenschaftler warnt vor Erstarken der AfD
Ähnlich sieht das der Mainzer Politikwissenschaftler Kai Arzheimer. Die Lage werde aufgrund der hohen Inflation, der Unsicherheit über die Energieversorgung, der Auswirkungen der Coronapandemie und der angespannten internationalen Lage von vielen Deutschen ohnehin als krisenhaft empfunden, sagte er.
Davon profitiere die AfD bereits jetzt. „Falls die Kommunen in den nächsten Monaten Schwierigkeiten haben, Geflüchtete unterzubringen und zu versorgen, wird das die Stimmung noch stärker belasten und damit zumindest indirekt der AfD nutzen“, sagte er.
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Die Kommunen fordern vom Bund und von den Ländern, dass die Flüchtlingskosten für Unterbringung, Versorgung, Kita- und Schulplätze als gesamtstaatliche Aufgabe übernommen werden. „Das darf nicht verbunden werden mit dem sogenannten dritten Entlastungspaket“, betonte Städtebundchef Landsberg. Die Flüchtlingsfrage habe mit den Themen des Entlastungspakets nichts zu tun.
Die Länder verlangen für ihre Zustimmung zum dritten Entlastungspaket erhebliche Hilfen des Bundes auf anderen Gebieten. Zentral sind die Kosten für die Integration der Ukraine-Flüchtlinge, Hilfen für die Krankenhäuser, mehr Bundesgeld für den Nahverkehr und die vollständige Übernahme der Wohngeldkosten durch den Bund. Das Wohngeld soll deutlich ausgeweitet werden. Bisher wird es hälftig von Bund und Ländern finanziert, doch die Länder wollen nicht länger mitmachen.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte aber lediglich zugesagt, dass bis Ende des Jahres darüber geredet werden solle, wie der Bund die Länder bei den Flüchtlingskosten unterstützen könne.
Landsberg sagte, Bund und Länder hätten stets versichert, dass den Kommunen zusätzliche Mittel bereitgestellt würden, wenn die Flüchtlingszahlen steigen. „Genau dies ist nun der Fall, deshalb ist jetzt nicht nur eine Zusage für das Jahr 2023, sondern auch eine zusätzliche Übernahme der Mehrkosten für 2022 erforderlich“, sagte er. Über die Finanzierungsfragen wird Anfang November erneut in Berlin beraten.
Aus Arzheimers Sicht entsteht momentan in der öffentlichen Diskussion der Eindruck, dass die Gemeinden überfordert seien und benötigte Mittel nicht zur Verfügung gestellt würden, weil sich Bund und Länder politisch nicht einigen können. Zwar sei klar, dass die Kommunen so ausgestattet werden müssten, dass sie ihre Aufgaben erfüllen können. „Für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Problemlösungsfähigkeit der Politik sind solche Debatten aber generell fatal, fast unabhängig davon, wie groß die finanziellen und administrativen Probleme wirklich sind“, erklärte der Politikprofessor.
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