Was hinter dem Machtwort des Kanzlers steckt, ob es zulässig war und was es für die Autorität des Kanzlers bedeutet – hier die wichtigsten Fragen und Antworten:
Von der Richtlinienkompetenz machen Bundeskanzler nur in besonderen Fällen Gebrauch. Der Sozialdemokrat Helmut Schmidt erklärte einmal, dass er das Instrument nie eingesetzt habe. Er habe es stattdessen als eine Pflicht angesehen, „große Anstrengungen auf das Zustandebringen von vernünftigen, praktisch brauchbaren, beiden Seiten gleichermaßen zumutbaren Kompromissen zu verwenden“.
Anders war es bei der früheren Kanzlerin. Angela Merkel (CDU) nordete Thomas de Maizière auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise ein. Auch mit Horst Seehofer geriet Merkel einst aneinander. Es ging dabei wieder um das Flüchtlingsthema. Die Kanzlerin erklärte den Plan des CSU-Innenministers, bestimmte Flüchtlinge an der Grenze im nationalen Alleingang zurückzuweisen, zu einer Frage ihrer Richtlinienkompetenz.
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Der ehemalige SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder verwies während seiner Amtszeit gleich mehrmals explizit auf seine Richtlinienkompetenz, etwa mit Blick auf die Afghanistan-Politik 2001.
Ist die Richtlinien-Entscheidung zum AKW-Streit ein Zeichen der Stärke?
Für den Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer ist die Sache klar: „Die Entscheidung verschafft ihm Respekt und stärkt seine Autorität“, sagte Neugebauer dem Handelsblatt. „Olaf Scholz liefert die Führung, die er versprochen hatte zu liefern.“ Neugebauer spielt damit auf den viel zitierten Satz von Scholz an: „Wer bei mir Führung bestellt, muss wissen, dass er sie dann auch bekommt.“
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Andererseits ist es bemerkenswert, dass der Kanzler bereits im ersten Regierungsjahr seine Richtlinienkompetenz nutzt. Der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz weist darauf hin, dass das Instrument eine Karte sei, „die man nicht oft ziehen kann“. Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin zitierte Franz Müntefering, der zur Richtlinienkompetenz des Kanzlers einst gesagt hatte: „Wer das macht in einer Koalition, der weiß, dass die Koalition zu Ende ist.“
Was genau steckt hinter der Richtlinienkompetenz, die der Kanzler als Grundlage für sein Handeln anführt?
Olaf Scholz nimmt in seinem – öffentlich verbreiteten – Schreiben explizit Bezug auf Paragraf 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung. Da heißt es: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der inneren und äußeren Politik.“ Diese seien für die Bundesminister verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbstständig und unter eigener Verantwortung zu verwirklichen.
Mit dieser Passage wird wiederum Artikel 65, Satz 1 des Grundgesetzes aufgenommen. Hier heißt es: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung.“
War das Verhalten des Kanzlers verfassungsrechtlich zulässig?
Ja, sagt die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff. „Es ist eine staatsrechtliche Binsenweisheit, dass die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers sich nicht auf ganz abstrakte Vorgaben beschränkt“, sagte Lübbe-Wolff dem Handelsblatt. Der Kanzler dürfe nicht in beliebige Einzelheiten der Ressorts hineinregieren, aber wenn es um Angelegenheiten von grundlegender politischer Bedeutung gehe, seien auch konkrete Entscheidungen bis hin zu Einzelfallentscheidungen zulässig.
Lübbe-Wolff erklärt: „Es wäre ja witzlos, wenn der Kanzler zwar abstrakte Richtlinien verkünden dürfte, aber nicht befugt wäre, dafür zu sorgen, dass seine Minister sich in ihrer konkreten Entscheidungspraxis daran halten.“ Die Frage des temporären Weiterbetriebs von Atomkraftwerken sei in der gegenwärtigen Energiekrise auch von so grundlegender Bedeutung, dass dafür die Richtlinienkompetenz in Anspruch genommen werden könne. Der Staatsrechtler Ulrich Battis sagte dem Handelsblatt: „Die aktuelle Situation ist geradezu ein Schulfall für die Ausübung der Richtlinienkompetenz.“
Um die Anordnung von Scholz umzusetzen, muss nun das Atomausstiegsgesetz geändert werden – ist das nur noch Formsache?
Scholz hat den Streit über die Laufzeit der letzten drei deutschen Atomkraftwerke für die Bundesregierung verbindlich entschieden: „Alle Regierungsmitglieder sind nun an die Weisung des Kanzlers gebunden“, erklärt Staatsrechtler Battis. Ein Minister, der angewiesen werde, einen Gesetzentwurf auszuarbeiten – wie im konkreten Fall geschehen – müsse das dann im eigenen Ressort umsetzen. „Wer das nicht will, der muss zurücktreten“, stellt Battis klar.
Dann gibt es aber noch die Ebene des Parlaments. „Hier gilt die Weisung des Kanzlers nicht“, sagt der Staatsrechtler. „Geht der Kabinettsbeschluss in den Bundestag, sind die Abgeordneten, auch jene der Regierungsfraktionen, nur ihrem Gewissen verpflichtet. Da könnte sich dann die Koalitionsfrage wieder stellen.“
Ist die von Olaf Scholz ausgegebene Richtlinie nun dauerhaft gültig?
Nein, sagt Staatsrechtler Battis. Die aktuelle Weisung des Kanzlers sehe zwar den Weiterbetrieb der drei Atomkraftwerke bis Mitte April 2023 vor. „Sollte sich im Winter die Lage dramatisch verschlechtern, könnte sich dieser Punkt noch einmal verändern“, erklärt der Jurist. „Der Kanzler kann seine Richtlinienkompetenz der jeweiligen Situation anpassen.“
Mehr: Stresstest für die Energiewende: Warum der Atomausstieg nicht mehr unantastbar ist
<< Den vollständigen Artikel: AKW-Laufzeiten: Was die Richtlinien-Entscheidung des Kanzlers für die Ampel heißt – die wichtigsten Antworten >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.