Washington Über Joe Bidens Kopf schwebt ein Riesenplakat, auf dem „Restore Roe“ steht. Es ist ein Bekenntnis zum Recht auf Abtreibung, das die USA im Sommer abgeschafft haben und das die Demokraten über ein Gesetz im Kongress wiederherstellen wollen. „Roe vs. Wade“ war das bahnbrechende Gerichtsurteil, das in den Siebzigerjahren das bundesweite Recht auf Schwangerschaftsabbruch möglich machte.
Ein vorwiegend junges Publikum ist ins Washingtoner Howard Theatre gekommen, um Biden zu sehen. Der Kunst- und Kulturkomplex ähnelt einem Kinosaal und steht im Osten der US-Hauptstadt. Hier geht es divers und manchmal rau zu, anders als in den Touristenvierteln gibt es noch immer mehr Spelunken als Cupcake-Cafés. Biden ist mit seiner Kolonne vom Weißen Haus rübergefahren und hat die Strecke absperren lassen, was die halbe Stadt lahmgelegt hat.
Seinen Fans ist das erst mal egal. „Let’s go, Roe! Let’s go, Joe!“ schallt es durch das Theater. „Ihr müsst wählen, wählen, WÄHLEN!“, ruft Biden zurück. Bei den wichtigen Zwischenwahlen am 8. November stehe nicht nur die Macht im Kongress auf dem Spiel, sondern auch die Zukunft der USA. „Wir brauchen das Recht auf Abtreibung, das Recht, Verhütung zu nutzen, das Recht, zu heiraten, wen wir lieben“, sagt Biden unter Applaus.
In Auftritten wie diesen spürt man, mit welchen Themen der US-Präsident die demokratische Basis mobilisieren will. Häufig legt er einen Schwerpunkt auf Gesellschaftspolitik und drängt auf Widerstand gegen den Rechtsruck der Republikaner – ähnlich, wie er es als Präsidentschaftskandidat 2020 gemacht hat, als er die „Seele der Nation“ retten wollte.
Top-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
>> Lesen Sie dazu auch: Alle gegen China: Republikaner und Demokraten setzen im Wahlkampf auf möglichst scharfe Abgrenzung
An anderer Stelle verweist Biden stolz darauf, was seine Regierung anderswo erreicht hat, trotz extrem knapper Mehrheiten im Kongress: einen Teil-Erlass von Studienschulden, Geld für Klimaschutz, Millionen Dollar gegen Kinderarmut, ein Infrastrukturpaket. „Ich war noch nie so optimistisch, was die Zukunft Amerikas angeht“, sagte Biden am Mittwoch im Weißen Haus.
Tatsächlich ist der Jobmarkt stark, und dank des Infrastrukturpakets wird im ganzen Land gemörtelt, gehämmert und produziert. Amerikanische und ausländische Firmen profitieren von massiven Investitionen in Elektromobilität. Doch die anhaltende Inflation, so hoch wie seit 40 Jahren nicht mehr, scheint alles zu überlagern, kletternde Benzin-, Lebensmittel- und Produktionskosten verhageln Biden den Endspurt zu den Kongresswahlen.
„Abtreibung war die große Hoffnung der Demokraten zur Mobilisierung, aber es ist überhaupt nicht das Hauptthema für die Menschen“, sagt Karlyn Bowman, Meinungsforscherin am Washingtoner Thinktank American Enterprise Institute. „Sorgen über die Wirtschaft dominieren diese Wahl. Wir haben in der Energieversorgung zwar mehr Glück als viele Menschen in Europa, aber auch hier sind die Preise belastend. Jeder ist betroffen, niemand kann der Inflation entkommen“, so Bowman.
Analysten warnen vor Rezession
Umfragen legen nahe, dass Biden und die Demokraten abgestraft werden und zumindest eine von zwei Kammern im US-Kongress an die Republikaner verlieren.
Tritt dieses Szenario ein, wird noch in der Wahlnacht eine heikle Debatte entbrennen: ob Biden dauerhaft als Präsident taugt und ob die Demokraten jemand anderen brauchen, um in den Präsidentschaftswahlkampf 2024 zu ziehen.
Dazu kommen neue Ängste vor einer Rezession, Analysten gehen davon aus, dass die größte Volkswirtschaft der Welt in den kommenden zwölf Monaten einen Abschwung erleben wird. Das Risiko erhöhe sich durch die Inflation und die gigantischen Zinssteigerungen der Federal Reserve, warnte die Ratingagentur Fitch in dieser Woche.
Eine kleine Entwarnung gibt es von Fitch: „Die von uns erwartete US-Rezession ist ziemlich mild.“ Das deckt sich mit Bidens Aussagen, der betonte, ein möglicher Abschwung werde „sehr gering“ ausfallen.
Aber Kommastellen im Wachstum spielen für den durchschnittlichen US-Bürger keine Rolle, glaubt Bowman. „Für die meisten Amerikaner ist eine gefühlte Rezession jetzt schon da“, beschreibt sie die Stimmung. „Wir haben den Finanzcrash von 2008 erlebt, die Lockdowns in der Covid-Krise, jetzt die Inflation. Die Leute sind unterm Strich ziemlich pessimistisch.“
Biden erwägt Freigabe von weiteren Ölreserven
Der US-Präsident will jetzt gegensteuern und noch in diesem Jahr 15 Millionen Barrel Rohöl aus den Notfallreserven freigeben, um die hohen Benzinpreise zu senken. Am Mittwoch legte Biden nahe, im Winter noch erheblich größere Vorräte freigeben zu wollen, viel mehr als ursprünglich geplant. Die Ölpreise waren letzte Woche in die Höhe geschossen, nachdem das Ölförderkartell Opec und seine verbündeten Länder angekündigt hatten, ihre Produktion um zwei Millionen Barrel pro Tag zu kürzen.
Kurzfristig Erleichterung bringen wird Bidens Entscheidung kaum. Viele Maßnahmen wirken mit Verzögerung, das gilt auch für das im August beschlossene „Paket zur Inflationsbekämpfung“, das unter anderem Medikamenten- und Energiepreise senken soll.
Der Effekt wird keinesfalls rechtzeitig vor den Wahlen eintreten, der Wahlabend gilt deshalb auch als Test für die Glaubwürdigkeit der Demokraten. Zuweilen wirkt Bidens euphorischer Tonfall taktlos. „Unsere Wirtschaft ist höllisch stark“, sagte er vergangene Woche, während er eine Eiscreme-Kette besuchte und an einer Vanille-Schoko-Kugel leckte. Der kurze Ausschnitt eines Interviews ging im Netz viral, die Republikaner stürzten sich auf die Szene und warfen Biden vor, die Wähler zu verhöhnen.
Zwar pumpten auch die Republikaner unter Trump Billionen in die Wirtschaft und trugen mehrere Covid-Rettungspakete mit, die die Gefahr von Inflation erhöhten. „Trotzdem, es ist jetzt Bidens Wirtschaft. Egal, was vor seiner Amtszeit passiert ist“, sagt Expertin Bowman.
Tatsächlich erkannte das Weiße Haus unter Biden den Ernst der Lage erst spät, Finanzministerin Janet Yellen bezeichnete noch 2021 die hohen Preise als „vorübergehend“. Biden brachte damals den 1,9 Billionen Dollar umfassenden „American Rescue Plan Act“ auf den Weg. Die Wirtschaftshilfe sollte Familien dabei helfen, sich mit Finanzspritzen über Wasser zu halten.
Lieferkettenprobleme, Produktionsengpässe und der Ukrainekrieg führten weltweit zu höheren Preisen. Heute sind sich Ökonomen darüber einig, dass die Konjunkturausgaben die Wirtschaft in den USA stärkten, die USA zogen an allen anderen G7-Nationen vorbei. Gleichzeitig jedoch sorgten die Maßnahmen dafür, dass die Inflation von unter zwei auf über acht Prozent kletterte.
Wird Biden zur „lame duck“ wie Obama 2010?
Historisch betrachtet ist es ohnehin schwierig für die regierende Partei, sich in Zwischenwahlen zu behaupten. Doch die chronisch hohen Preise für Tanken, Essen und Wohnen verdüstern die Aussichten für die Demokraten zusätzlich. Eine Umfrage der „New York Times“ zeigte in dieser Woche, dass die Inflation über die Macht in Washington entscheiden könnte.
Das Thema Wirtschaft sei deutlich mehr Wählerinnen und Wählern wichtig als etwa Abtreibung oder der Zustand der Demokratie im Land, ergab die Umfrage. Dabei treten auf republikanischem Ticket Hunderte Kandidaten an, die Wahlergebnisse leugnen und demokratische Strukturen aufbrechen wollen.
„In einigen Umfragen haben die Demokraten immer noch einen Vorsprung, aber der Vorsprung ist nicht groß genug“, meint Bowman. „Sie drohen das Repräsentantenhaus zu verlieren“, die zweite Kammer im Kongress. Dann ginge es Biden ähnlich wie seinem früheren Chef Barack Obama nach zwei Jahren Amtszeit.
Mit einem gespaltenen Kongress können die Demokraten kein größeres Gesetz mehr verabschieden, Biden wäre dann eine „lame duck“, ein Präsident ohne Handhabe. Die Republikaner haben zuletzt fast 150 Millionen Dollar für Fernsehwerbung ausgegeben, und die Spots drehen sich vor allem um ein Thema: Inflation. Es ist das bestimmende Thema des Wahlkampfs – und Bidens Gegner wollen es für sich nutzen.
Mehr: Vor den Midterms: Das sagen die beiden US-Parteien zu den wichtigsten Themen.
<< Den vollständigen Artikel: USA: Inflation und „gefühlte Rezession“ – Biden droht ein Wahldesaster >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.