London Die Suche nach einem Nachfolger für die am Donnerstag zurückgetretene britische Premierministerin Liz Truss hat die Konservative Partei in ein neues Chaos gestürzt. Grund dafür ist die mögliche Kandidatur von Ex-Premier Boris Johnson, der erst im Juli wegen Verfehlungen während des Corona-Lockdowns sein Amt abgeben musste.
Bis zum Montagmittag haben die Bewerber für das Amt des Tory-Parteichefs Zeit, mindestens 100 Parlamentsabgeordnete hinter sich zu bringen und ihre Kandidatur zu erklären. Der neue Parteichef wird traditionell auch Premierminister, da die Konservativen im Unterhaus über eine Mehrheit von rund 70 Sitzen verfügen.
Sollte nur ein Kandidat die 100er-Marke bis Montag erreichen, hat er oder sie automatisch die Wahl gewonnen und Großbritannien hat einen neuen Regierungschef.
Erreichen zwei oder drei Kandidaten die Mindestzahl, kommt es zunächst zu einer Stichwahl in der Fraktion und dann zu einer Onlineabstimmung unter den etwa 180.000 Parteimitgliedern der Tories. Das Ergebnis würde dann in einer Woche am 28. Oktober verkündet. Die Finanzmärkte reagierten nervös auf die anhaltende Unsicherheit über die politische Führung in Großbritannien: Das Pfund und britische Staatsanleihen gerieten erneut unter Druck.
Hier ein Überblick über die drei aussichtsreichsten Bewerber und ihre Chancen:
Rishi Sunak
Der ehemalige Schatzkanzler geht als Favorit in das Nachfolge-Rennen. Die englischen Buchmacher sehen ihn mit 50 Prozent deutlich vor Johnson mit knapp 40 und Mordaunt bei gut zehn Prozent.
Sunak war im Sommer nur knapp Liz Truss unterlegen und verfügte damals schon über eine Mehrheit in der Fraktion. Für ihn spricht, dass er die wirtschaftlichen Folgen von Truss‘ desaströsen finanzpolitischen Plänen ziemlich exakt vorausgesagt hat und an den Finanzmärkten eine hohe Glaubwürdigkeit als solider und kompetenter Wirtschaftspolitiker genießt.
Leicht dürfte es der 42-jährige Sohn afrikanischer Einwanderer dennoch nicht haben. Viele Parteimitglieder werfen ihm vor, durch seinen Rücktritt im Sommer den damaligen Premierminister Johnson zu Fall gebracht zu haben. Vor allem der rechte Flügel der Tories misstraut Sunak und hält ihn wegen der von ihm befürworteten Steuererhöhungen für einen verkappten „Sozialisten“. Der ehemalige Finanzminister gilt als Pragmatiker, aber auch als Verfechter des Brexits.
Boris Johnson
Der frühere Premier erfuhr mitten im Urlaub in der Dominikanischen Republik von dem Rücktritt Truss‘ und eilte am Freitag nach Medienberichten zurück nach London. Johnson wird vor allem von rechten Konservativen wie Wirtschaftsminister Jacob Rees-Mogg unterstützt, genießt aber auch an der Basis immer noch viel Sympathien.
Für ihn spricht, dass er von allen möglichen Kandidaten 2019 als einziger eine Wahl gewonnen hat und deshalb einen Wählerauftrag für sich beanspruchen kann. Der ehemalige Journalist und Londoner Bürgermeisten gilt als genialer Wahlkämpfer und viele Tories trauen nur ihm zu, die stark angeschlagene Partei bei den nächsten Parlamentswahlen vor dem Untergang zu bewahren.
Sein womöglich entscheidender Nachteil ist, dass im Unterhaus gegen ihn eine Untersuchung läuft, weil er angeblich das Parlament über Verstöße gegen die Corona-Regeln belogen haben soll. Sollten sich die Vorwürfe bestätigen, würde Johnson aus dem Unterhaus ausgeschlossen und müsste das Regierungsamt niederlegen, um das er sich jetzt bewerben will.
Einige Tory-Abgeordnete haben deshalb mit ihrem Parteiaustritt gedroht, sollte Johnson erneut Premierminister werden. Solange die Untersuchung gegen Johnson nicht abgeschlossen sei, dürfe er kein Regierungsamt übernehmen, sagte der konservative Parteiveteran Roger Gale. Angesichts starker Widerstände in der Fraktion ist es unsicher, ob Johnson überhaupt die 100er-Hürde überspringen kann.
Penny Mordaunt
Die 49-jährige Präsidentin im britischen Unterhaus hat sich vor allem durch ihren überzeugenden Auftritt vergangene Woche im Parlament in den Vordergrund gedrängt. Mordaunt vertrat am Montag die bereits angeschlagene Liz Truss und bot den Angriffen der Opposition gekonnt die Stirn. Sie war bis Freitagnachmittag die einzige, die ihre Kandidatur öffentlich erklärt hatte.
Als ehemalige Ministerin verfügt sie über eine ausreichende Regierungserfahrung und leitete zuletzt 2019 das Verteidigungsministerium. Sie ist eine Reservistin in der Royal Navy.
Mordaunt bewarb sich bereits im Sommer um die Partei- und Regierungsspitze, landete aber hinter Truss und Sunak nur auf dem dritten Platz. Sie gilt in der Konservativen Partei als besonders teamfähig und ist nach Meinung vieler Tories noch am ehesten in der Lage, die zerstrittene Partei wieder zusammenzuführen.
Sie sei die Kandidatin, die von der oppositionellen Labour-Partei am meisten gefürchtet werde, heißt es in konservativen Kreisen. Mordaunt schloss am Freitag eine Allianz mit Sunak aus, sie wolle nicht die „zweite Geige spielen“, hieß es aus ihrem Lager. Als Parteichefin und Premierministerin wolle sie das Land einen, die Wahlversprechen der Tories umsetzen und die nächste Parlamentswahl gewinnen, so die 49 Jahre alte Mordaunt weiter.
Nach einer Zählung britischer Medien am Freitag lag Mordaunt bei der Zahl ihrer Unterstützer auf Platz drei hinter Rishi Sunak und Johnson.
Opposition drängt auf Neuwahlen – Umfragen sehen Labour mit Riesenvorsprung
Neben den drei führenden Kandidaten werden auch noch Verteidigungsminister Ben Wallace, die von Truss entlassene Innenministerin Suella Braverman und und die Ministerin für internationalen Handel, Kemi Badenoch, als mögliche Bewerber um die Topjobs genannt. Allen drei werden jedoch nur geringe Chancen eingeräumt, die 100er-Marke zu erreichen. Wallace kündigte inzwischen an, er werde sich nicht bewerben und vermutlich Johnson unterstützen.
Dreikampf um Truss-Nachfolge – mögliches Comeback für Johnson
Die Opposition drängt unterdessen auf Neuwahlen. „Es kann keine Drehtür für das Chaos geben“, sagte der Labour-Chef mit Blick auf die Versuche der Tories, den dritten konservativen Premier in nur fünf Monaten ohne ein Wählervotum zu installieren.
In einer neuen Meinungsumfrage liegt die Labour Partei mit 53 Prozent deutlich vor den Tories, die es nur noch auf 14 Prozent bringen. „Wir gehen weiterhin davon aus, dass es in der Konservativen Partei kurzfristig starken Widerstand gegen Neuwahlen geben wird, aber der Führungswechsel könnte die Möglichkeit einer vorgezogenen Parlamentswahl bis 2023 vorantreiben”, sagte Modupe Adegbembo, Ökonomin bei Axa Investment Managers.
Wirtschaft liegt am Boden
Egal, wer am Ende das Rennen macht, der oder die neue Premierministerin muss Großbritannien aus einer tiefen Wirtschaftskrise führen. Im September stieg die öffentliche Verschuldung um 20 Milliarden Pfund (etwa 23 Milliarden Euro) stärker als von Analysten erwartet.
Die Einzelhandelsumsätze gingen im Spätsommer weiter zurück und das Verbrauchervertrauen verharrte auf dem niedrigsten Stand seit 50 Jahren.
Mehr: Regierungskrise in London: Premierministerin Liz Truss tritt zurück
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