Berlin Spätestens am Donnerstag sind die Auswirkungen der andauernden russischen Drohnen- und Raketenangriffe bei jedem Ukrainer angekommen: Bis zu vier Stunden lang stellte der Energieversorger Ukrenergo zeitlich gestaffelt in jedem Gebiet den Strom ab.
Und dabei soll es nicht bleiben: „Wir müssen die Menschen auffordern, morgens und abends Strom zu sparen, um die Belastung des beschädigten Netzes zu verringern“, sagt Ukrenergo-Chef Volodymyr Kudrytskyi dem Tagesspiegel.
„Es geht Putin darum, einen Diktatfrieden zu erreichen. Er will, dass sich der Druck in der ukrainischen Gesellschaft erhöht“, sagt Andreas Umland, Analyst am Stockholm Centre for Eastern European Studies. Er vermutet, dass die Bombardements so lange weitergehen, bis die Ukraine zu territorialen Kompromissen bereit ist. Dass das Kalkül aufgeht, glaubt er nicht: „Ich war letzte Woche in Kiew: Die ukrainische Position hat sich eher noch verhärtet.“
„Das ukrainische Energiesystem hat nur standgehalten, weil die Energietechniker bereit waren“, so Kudrytskyi weiter. Es gibt in der gesamte Ukraine etwa 70 Reparaturteams, die fast 1000 Techniker umfassen.
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Dem Direktor des Energieforschungszentrums, Oleksandr Khartschenko, zufolge hat Russland die Angriffe so berechnet, dass sie dem ukrainischen Energiesystem maximalen Schaden zufügen. „Die Russen treffen vor allem die Verbindungsknotenpunkte, über die das Stromnetz miteinander verbunden ist – sozusagen die Schlüsselstellen. Für die Ukraine ist dies sogar noch schlimmer und gefährlicher als ein Angriff auf die Kraftwerke an sich.“
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Vor dem Krieg seien die wichtigsten Komponenten des ukrainischen Energiesystems die Kernkraft und die erneuerbaren Energien gewesen, die zusammen 70 Prozent ausmachten, sagt der stellvertretende ukrainische Energieminister, Yaroslav Demchenkov. „Jetzt müssen wir uns mehr auf unsere drei anderen Kernkraftwerke und die Wärmeerzeugung mit Kohle und Gas verlassen.“ Allein das AKW Saporischschja, das Russland nun besetzt, hatte ein Achtel des ukrainischen Stroms produziert.
Kann die Ukraine ohne Strom und Wärme den Winter überstehen?
Seit Mittwoch greift Russland Demchenkov zufolge das größte ukrainischen Kohlebergbauunternehmen aus der Luft an. Ohne die Kohle wären viele Wärmekraftwerke von der Versorgung abgeschnitten. Er ist sich sicher, dass die russischen Militärs, die die Operation leiten, von Energiespezialisten beraten werden. „Sie wussten genau, welche Komponenten des ukrainischen Energiesystems am anfälligsten waren“, so Demchenkov.
Für Analyst Umland ist der Zeitpunkt der Angriffe kein Zufall. Denn die nahende kalte Jahreszeit sei nicht nur ein Problem für die Ukrainer. „Der Winter wird auch hart für die russischen Soldaten ohne Strom und Wasser. Deshalb scheint es, als ob Russland die Ukraine noch zum Anbruch des Winters brechen will.“
So berichtet das Handelsblatt über den Ukraine-Konflikt:
Jeder habe gesehen, dass sich das ukrainische Energiesystem während des Krieges als äußerst widerstandsfähig erwiesen habe, sagt der stellvertretende Energieminister der Ukraine. „Wir verfügen über genügend eigene Stromerzeugungskapazitäten“, erklärt Demchenkov.
Doch um diese Widerstandsfähigkeit aufrechtzuerhalten, bräuchte die Ukraine Hilfe, sagt Demchenkov: „Die Russen wollten in der Ukraine eine humanitäre Katastrophe auslösen, die zu einer humanitären Katastrophe in Mitteleuropa führt.“
Aus Khartschenkos Sicht verliefen die russischen Angriffe noch nicht so, wie sich Putin das vorgestellt habe. Denn es habe lediglich ungeplante Stromausfälle in einigen Bezirken und Städten gegeben. Die Ukraine sei auf einen solchen Angriff vorbereitet, sagt er. „Es wurden zusätzliche Reparaturteams ausgebildet, Pläne für die Notstromversorgung ausgearbeitet, Ersatzteile und Ausrüstung für eine schnelle Wiederherstellung gesammelt“, erklärt der Energieexperte.
Darüber hinaus hat sich die Ukraine in den letzten Jahren auf den Beitritt zum europäischen Stromsystem Entso-E vorbereitet, wodurch viel Geld in die Stabilität investiert wurde. Im März trat die Ukraine schließlich bei und verfügt seitdem über ein einheitliches Stromnetz im ganzen Land, das synchron mit den Netzen in Europa arbeitet. Der Krieg hatte den Prozess beschleunigt, ansonsten hätte der endgültige Beitritt erst 2023 erfolgen sollen.
„Wie die Erfahrung zeigt, werden die Ergebnisse, die Russland mit solchen Angriffen erzielt, von Mal zu Mal geringer“, sagt Khartschenko. Es sei ein Wettbewerb zwischen ukrainischen Energietechnikern und russischen Truppen. „Je schneller es uns gelingt, den Schaden zu reparieren, desto weniger wirksam sind die russischen Raketenangriffe.“
Was kann der Westen tun, um zu helfen?
Experten sind sich einig, dass Dieselheizungen, mobile Wärmepumpen, Heizcontainer und mobile Warmlufterzeuger in großer Zahl in die Ukraine gebracht werden müssen. Zudem könnten Drohnen aller Art zum Schutz und zur Überwachung von Infrastrukturen, Ermittlung von Schäden und zur Aufklärung dienen. Langstreckenartillerie könnte helfen, die Militärbasen, von denen aus Russland seine Drohnen und Raketen losschickt, direkt zu treffen.
„Wir sind den europäischen Übertragungsnetzbetreibern sehr dankbar, die uns schon mehrfach mit Material und Geräten geholfen haben, auch unseren deutschen Kollegen Amprion und 50 Hertz“, sagt Ukrenergo-Chef Kudrytskyi. Doch auch auch der stellvertretende Energieminister Demchenkov fordert: „Nur eine starke Luftabwehr kann Raketen- und Drohnenangriffe abwehren.“
Solche Systeme schickte der Westen zuletzt nach langer Ankündigung in großer Zahl in die Ukraine, so auch Deutschland sein System Iris-T. Analyst Umland denkt trotzdem, dass sich der Westen den Vorwurf gefallen lassen muss, im Vorfeld der Attacken nicht genügend für die ukrainische Luftabwehr getan zu haben.
„Seit Ende Februar fordert die Ukraine eine Flugverbotszone“, sagt Umland. „Vielleicht war die Forderung unglücklich formuliert und wurde von der Nato als möglicher direkter Kriegseintritt gewertet, deshalb hat sich der Aufbau einer funktionierenden flächendeckenden Flugabwehr hingezogen, jetzt zählt jeder Tag.“
Ist ein wirksamer Schutz mit neuen Luftabwehrsystemen überhaupt möglich?
Zwar sieht auch Gennadiy Ryabtsev, Mitglied des öffentlichen Rates im Ministerium für Energie und Kohleindustrie, eine starke Luftabwehr als einzige Lösung. Doch sagt er auch: „Selbst der israelische Iron Dome wäre nicht in der Lage, die Anlagen des Energiesystems vollständig zu schützen, wenn sie in dieser Menge angegriffen werden.“
Die kritische Infrastruktur sei ausschließlich gegen terroristische Angriffe von Einzelpersonen oder kleinen Gruppen geschützt, so Ryabtsev. Dieser Schutz sei nicht in der Lage, den Luftstreitkräften eines ganzen Staates standzuhalten.
„Wenn die Luftabwehrsysteme des Landes im Laufe der Zeit nicht verstärkt werden und die Intensität der Angriffe nicht abnimmt, wächst die Bedrohung für die Lebensfähigkeit des ukrainischen Energiesystems von Monat zu Monat“, sagt Ryabtsev. „Es wird für uns immer schwieriger werden, die Systeme wieder aufzubauen, das Zerstörte zu reparieren und die Verbraucher über Ausweichrouten von Reservestromleitungen zu versorgen.“
Es gebe viel mehr Knotenpunkte als Kraftwerke, sodass es nicht so einfach sei, sie mit Luftabwehrsystemen zu schützen, sagt Khartschenko, Direktor des Energieforschungszentrums. Und Knotenpunkte könnten, anders als ein Kraftwerk, mit einem einzigen Raketeneinschlag zerstört werden.
Ukraine-Krieg im Winter: Worauf muss sich der Westen einstellen?
Analyst Umland glaubt nicht, dass konkrete Auswirkungen der russischen Attacken auch für die Energieversorgung im Westen zu befürchten sind. „Die Angriffe haben für den Westen eher eine symbolische Rolle.“
Sehr wohl aber werde die Zahl der Flüchtlinge nach Europa „ganz sicher steigen“, teilt das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR auf Anfrage mit. Damit, so glauben Experten, wolle Russland den Westen destabilisieren. Es gibt dem UNHCR zufolge in der Ukraine mehr als 6,2 Millionen Binnenvertriebene, die zu den fast 7,7 Millionen bereits aus der Ukraine Geflüchteten, hinzukommen.
„Wir sind bereits seit Mai dabei, Materialien für den Winter in die Ukraine zu transportieren. Das sind Decken, Schlafsäcke, Hygieneartikel, warme Kleidung, Matratzen, Solarlampen und ähnliches“, teilt das UNHCR mit. „In den ersten Monaten des Krieges ging es erst einmal darum, Unterkünfte, die noch nicht zerstört waren, überhaupt zu finden. Jetzt geht es darum, sie zu reparieren und zu isolieren, damit man Winterwetter in ihnen überstehen kann.“
Bislang hat das UNHCR nach eigenen Angaben 390 Einrichtungen mit knapp 108.000 Schlafplätzen hergerichtet. Zudem erhielten demnach bereits mehr als 630.000 Binnenvertriebene und Flüchtlinge kleinere Bargeldbeträge, um sich selbst versorgen können. „Mit all diesen Dingen erreichen wir direkt etwa 2,1 Millionen Menschen in der Ukraine“, so das UNHCR.
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