Wien Das Trucker-Leben in Südrussland ist derzeit noch unangenehmer als in normalen Zeiten. Seit die Brücke auf die Krim beschädigt wurde, mutmaßlich durch einen ukrainischen Anschlag, stehen die Lastwagen in langen Kolonnen am Ufer des russischen Festlands und warten. Am Donnerstag geht noch weniger als sonst, da starker Wind die Handvoll Fähren behindert, die den Transport über die Meerenge von Kertsch nun größtenteils übernehmen.
Immerhin haben die Fahrerinnen und Fahrer, die sich über eine Telegram-Chat-Gruppe austauschen, ihren Sinn für Humor nicht verloren. „Ich verstehe nicht, weshalb sie Kraftstoff und Leute für Fähren einsetzen, wenn sie sowieso alle über die Brücke lassen“, ätzt Wowka. Er bezieht sich dabei auf die Propaganda der russischen Regierung, die alles unternimmt, um die Schäden kleinzureden.
Die Behauptung des stellvertretenden Ministerpräsidenten Marat Chusnullin vom Dienstag, 40-Tonner könnten ohne Wartezeit über die Krim-Brücke fahren, wurde zum Running Gag unter den Wartenden. „Bis zur Brücke kam diese Information aber nicht durch“, scherzt Nikolai. Der Nutzer anutkinboy hat bereits resigniert. „Wir müssen noch 100 Jahre warten. Dabei sagten sie, sie öffneten die Brücke in drei Tagen.“
Vom Normalbetrieb ist die Brücke knapp zwei Wochen nach der Explosion mit vier Toten jedenfalls noch weit entfernt. Die Lastwagenbombe hatte am Morgen des 8. Oktober nicht nur zwei Fahrspuren der Autobahn auf einer Länge von 250 Metern zerstört, sondern auch die parallel verlaufende Eisenbahnlinie stark in Mitleidenschaft gezogen: Neun Zisternenwagen für Treibstoff fingen Feuer, die Flammen loderten mindestens eine Stunde lang.
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Zwar vermeldete Moskau innerhalb eines Tages die Wiederaufnahme des Verkehrs auf zwei von vier Autobahnspuren und einen „fahrplanmäßigen“ Eisenbahnbetrieb. Doch im Telegram-Chat der Trucker zeigt sich ein anderes Bild: Autos ohne Ladung kommen rasch über die Brücke, solche mit Gepäck werden zunächst genau überprüft. Während Passagierbusse fahren dürfen, werden Kleinlaster nur selektiv durchgelassen.
Züge müssen vor der Brücke abbremsen
Größere Gefährte müssen auf die Fähren, wobei solche mit verderblichen, lebensnotwendigen oder strategischen Gütern Priorität genießen. Die Kapazität ist beschränkt: So setzten die Boote laut dem Transportministerium zwischen dem 9. und 16. Oktober knapp 13.000 Passagiere und 4000 Fahrzeuge über – einen Bruchteil des Verkehrsvolumens auf der Autobahn.
Von einem regulären Eisenbahnbetrieb kann ebenfalls keine Rede sein: Wie die Zeitung „Kommersant“ schreibt, ist nur ein Schienenpaar befahrbar. Zudem müssten die Züge an der Stelle der Explosion auf 40 Kilometer pro Stunde abbremsen. Dies geschieht laut Experten aus Sicherheitsgründen, um die Schwingungen zu minimieren, die zu einem Kollaps der Struktur führen könnten.
„In erster Linie müssen wir die Reparatur des Eisenbahnteils der Brücke beschleunigen“, meinte deshalb jüngst Chusnullin. Bereits heute seien 250 Mann, 30 schwere Geräte und zwei Schwimmkräne im Einsatz. „Bis Ende des Jahres haben wir die Hauptarbeit abgeschlossen“, gibt sich der Regierungspolitiker zuversichtlich. Die Reparaturen würden allerdings bis Juli 2023 andauern, fügte er vage hinzu, was einigen Interpretationsraum offenlässt – zumal der nahende Winter und das schlechte Wetter die Arbeiten deutlich erschweren dürften.
Für Russland hat der Weiterbetrieb der Brücke höchste Priorität, wobei unklar bleibt, wie gravierend die strukturellen Schäden wirklich sind. Um diese zu bestimmen, wären aufwendige Untersuchungen nötig, für die vor dem Hintergrund des Krieges gegen die Ukraine die Zeit fehlt. Die Restriktionen beim Gewicht von Fahrzeugen und bei Zügen lassen aber darauf schließen, dass Moskau das Risiko kennt.
>> Lesen Sie dazu auch: Explosion auf der Krim-Brücke: Präsident Putin übt Vergeltung
Die eingeschränkte Transportkapazität über die wichtigste Verbindung auf die Krim und an die russische Südfront führt zu zivilen und militärischen Versorgungsproblemen. Für die Armee fällt primär die reduzierte Anzahl von Güterwaggons ins Gewicht: Der ukrainische Militärexperte Dmitro Snegirow schätzt, dass vor der Explosion täglich fünfzig Eisenbahnwagen mit Munition und Kriegsgerät über die Brücke fuhren. Während Moskau seither genaue Angaben über die verkehrenden Passagierzüge macht, bleiben jene über die Güterzüge spärlich. Sie dürften aber stark reduziert und mit leichterer Beladung verkehren.
Beobachter, die Satellitenbilder aus der Region auswerten, stellen fest, dass das Militär auf andere Transportmittel ausweicht. So wurden auf mindestens einer Fähre Armeelastwagen transportiert. Die Analysten von „The War Zone“ verweisen auch auf eine stark angewachsene Zahl von Starts und Landungen großer Transportflugzeuge auf dem Militärflugplatz von Dschankoi auf der Krim, der nahe bei Cherson liegt.
Um den Flaschenhals Krim-Brücke zu entlasten, empfehlen die Behörden den Lastwagenfahrern eine Alternativroute durch die „neuen Territorien“. So bezeichnen die Russen die gewaltsam annektierten Regionen Saporischschja und Cherson.
Über knapp 400 Kilometer führt sie von Taganrog via Mariupol und Melitopol auf die Halbinsel. Dieser Weg sei völlig problemlos, verkündete Chusnullin, auch wenn auf einigen Abschnitten die Straße gerade noch ausgebessert werde. Anhalten dürfe man aber nur auf offiziell ausgewiesenen Rastplätzen.
Die Trucker auf Telegram berichten hingegen von einer unangenehmen Fahrt. „Ich habe keine Lust mehr darauf“, meint ein gewisser Jewgeni Semenow. Zwischen der Krim und der Stadt Melitopol sei die Straße in katastrophalem Zustand. Andere melden kaputte Tankstellen und fehlende Handy-Abdeckung. Dazu kommen Sicherheitsbedenken: „Mir scheint, es ist zu gefährlich, dort durchzufahren“, findet der Nutzer Schwez_Danil. Andere sorgen sich, ob das neu eingeführte Kriegsrecht die Durchfahrt unmöglich mache. Laut ersten Erfahrungsberichten ist diese allerdings weiterhin möglich.
Allerdings nennt keines der fast 1000 Mitglieder des Kanals den Krieg je beim Namen.
Spätestens an diesem Punkt wird dem Leser des Chats bewusst, in welcher Parallelwelt die Diskussionen unter den Lastwagenfahrern stattfinden. Sie sorgen sich um ihre verderblichen Waren und um das Geld, das sie wegen der Verspätungen verlieren, während nur wenige Dutzend Kilometer nördlich von ihnen der Krieg tobt. Sollten die Ukrainer allerdings weiter vorrücken, dürften auch die Ausweichrouten in ihr Visier geraten.
Mehr: Explosion auf Krim-Brücke – Sicherheitskreise vermuten ukrainische Attacke
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