Nov 6, 2022
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Achim Steiner im Interview: Deutscher UN-Diplomat verteidigt kurzfristige Investitionen in fossile Energien – und redet Industrieländern ins Gewissen

Written by Silke Kersting

Berlin Er ist auf nahezu jeder Klimakonferenz vertreten: Achim Steiner, Chef der Entwicklungsorganisation der Vereinten Nationen (UNDP) und ranghöchster Deutscher bei den Vereinten Nationen. Der Deutschbrasilianer gehört seit Jahren zu den unermüdlichen Mahnern für mehr Klimaschutz.

Die kurzfristigen Investitionen in fossile Energien verteidigt der UN-Diplomat. „Ich glaube, jeder erkennt, dass wir in außergewöhnlichen Zeiten leben“, sagt Steiner im Interview mit dem Handelsblatt. „Im Augenblick ist es nachvollziehbar, dass Kohle kurzfristig einen Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung leistet, auch in Deutschland.“ Es gehe um zeitlich befristete Notmaßnahmen, „die uns und unsere Wirtschaft über den Winter bringen“.

Eine Renaissance der Kohle sieht Steiner nicht. Weltweit stammten 2021 mehr als 81 Prozent des neu ans Netz gebrachten Stroms aus erneuerbaren Quellen. Die Energieerzeugung aus Sonne und Wind sei zunehmend kostengünstiger als andere Arten der Energieerzeugung, sagte Steiner. „Alle Szenarien deuten darauf hin, dass wir trotz dieser jetzt schwierigen Zeit langfristig den Weg in eine CO2-freie Energieversorgung nicht aufgeben.“

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Vor allem den Industrieländern redet der Diplomat ins Gewissen. Sie hätten ihr Versprechen nicht gehalten, die Entwicklungsländer mit jährlich 100 Milliarden Dollar zu unterstützen, damit diese sich schneller gegen den Klimawandel wappnen können. Zudem müssten aufstrebende energiehungrige Länder wie beispielsweise Südafrika stärker dabei unterstützt werden, ihre Versorgung mit erneuerbaren Energien zu stärken. Die Finanzierung grüner Infrastrukturen könnte sich in den nächsten Jahren als größter Engpass beim Schutz des Klimas erweisen.

„Wir unterschätzen immer noch, wie katastrophal die Auswirkungen des Klimawandels sein können“, mahnt Steiner. „Ein Planet, der sich zunehmend erwärmt, kann gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Erfolg im Nu zunichtemachen.“

Lesen Sie hier das vollständige Interview:

Herr Steiner, die Weltklimakonferenz beginnt unter schlechten Vorzeichen. Die Treibhausgasemissionen sind zu hoch, die Welt ist nicht auf Kurs, die Pariser Klimaziele zu erfüllen. Was muss passieren?
Viele Länder befinden sich bereits seit der Coronapandemie in einer finanziell schwierigen Lage. Der Krieg gegen die Ukraine und die damit verbundene Energiekrise verschärft die Situation weiter und erschwert den Umbau der Weltwirtschaft mit einer sauberen Energieinfrastruktur.

Viele Länder setzen wieder auf die klimaschädliche Kohle, um die Energieversorgung zu sichern. Auch Deutschland holt Kohlekraftwerke aus der Reserve zurück und baut zudem Flüssiggasterminals. Droht eine Renaissance fossiler Energien?
Ich glaube, jeder erkennt, dass wir in außergewöhnlichen Zeiten leben. Im Augenblick ist es nachvollziehbar, dass Kohle kurzfristig einen Beitrag zur Sicherung der Energieversorgung leistet, auch in Deutschland. Es geht um zeitlich befristete Notmaßnahmen, die uns und unsere Wirtschaft über den Winter bringen.

Also kein Grund zur Sorge?
Notmaßnahmen sind eine Sache, aber eine Renaissance der fossilen Energien herbeizureden, ist eine andere. Ja, es gibt Rückschläge. Doch noch vor fünf Jahren hätte man sich das Ausmaß der Pläne, in grüne Infrastrukturen zu investieren, nicht vorstellen können. Ich bin eher optimistisch als pessimistisch: Weltweit stammten 2021 mehr als 81 Prozent des neu ans Netz gebrachten Stroms aus erneuerbaren Quellen – und zwar auch aus betriebs- und volkswirtschaftlichen Gründen. Die Energieerzeugung aus Sonne und Wind ist zunehmend kostengünstiger als andere Arten der Energieerzeugung. Alle Szenarien deuten darauf hin, dass wir trotz dieser jetzt schwierigen Zeit langfristig den Weg in eine CO2-freie Energieversorgung nicht aufgeben.

Und wenn doch?
Dann haben wir wirklich ein Riesenproblem, was den Klimawandel betrifft. Ganz klar: Es gibt noch heftige Debatten in Scharm el-Sheich. Vor allem die Entwicklungsländer stehen mit dem Rücken zur Wand. Viele haben keine Investitionsmittel. Sie haben Schwierigkeiten, ihre Bevölkerung mit Energie zu versorgen. In dieser Gemengelage wird es für einige Länder kurzfristig attraktiv, sich auf fossile Brennstoffe zu konzentrieren, Das ist für den Klimaschutz eine große Bedrohung. Deshalb muss auf der Konferenz in Ägypten das gemeinsame Interesse und Handeln im Vordergrund stehen.

>> Lesen Sie hier: Expertenrat: Erreichung deutscher Klimaziele für 2030 zweifelhaft

Und wie soll das aussehen?
Die Industrieländer stehen hier mit in der Pflicht. Sie haben ihr Versprechen nicht gehalten, die Entwicklungsländer mit jährlich 100 Milliarden Dollar zu unterstützen, damit diese sich schneller gegen den Klimawandel wappnen können. Das hat viel Misstrauen und Frustration geschaffen. Es geht um Kofinanzierung, denn Entwicklungsländer investieren schon heute ein Vielfaches aus ihren eigenen Haushalten. Mit der Haltung, dass sich jeder selbst der Nächste ist, werden wir beim Schutz des Klimas nicht vorankommen.

Was erwarten Sie von den Industrieländern?
Erstens, dass sie ihre Zusagen erfüllen und den Entwicklungsländern finanziell stärker helfen. Zweitens müssen aufstrebende energiehungrige Länder wie beispielsweise Südafrika stärker dabei unterstützt werden, ihre Versorgung mit erneuerbaren Energien zu stärken.

Die EU, Großbritannien und die USA unterstützen das Land aber bereits bei der Dekarbonisierung seiner Wirtschaft. Die Industrieländer fördern mit rund 8,5 Milliarden US-Dollar, dass dort Kohlekraftwerke geschlossen werden …
Ja, aber in bestimmten Regionen wird mitunter die Stromversorgung gestoppt, weil noch nicht genügend Kapazitäten im Land vorhanden sind. Die Finanzierung grüner Infrastrukturen wird sehr wahrscheinlich der größte Engpass in den nächsten Jahren sein – das betrifft auch Länder wie Kenia, Uruguay, Marokko, die auf dem Weg waren, einen Großteil ihrer Stromversorgung mit sauberer Energie abzudecken, jetzt aber leere Kassen haben. Mehr als 50 Länder weltweit stehen im Augenblick durch die Verschuldungskrise an dem Punkt, zahlungsunfähig zu werden.

>> Lesen Sie hier: Turbo für Erneuerbare und Energieeffizienz nötig – mehr Hitzetote auch in Deutschland

Was fordern Sie von der Weltgemeinschaft?
Die Weltgemeinschaft hat ein Interesse daran, die Verschuldungsproblematik aus vielen Gründen offensiv anzugehen. Es wäre zum Beispiel möglich, dass ein Teil der Schulden erlassen wird, um sie in Klimainvestitionen umzuwandeln.

Das wird teuer für die Industrieländer, die ja noch eine weitere Verpflichtung haben: Länder bei der Bewältigung nicht mehr abwendbarer Klimaschäden finanziell zu unterstützen.
Wir erleben die Auswirkungen des Klimawandels fast wöchentlich. Und doch unterschätzen viele von uns immer noch, wie katastrophal sie sein können. Dabei müssen wir nur an die Fluten im vergangenen Jahr im Ahrtal denken, die mehr als 100 Menschenleben und Milliardenschäden verursacht haben. Viele Entwicklungsländer sind aber deutlich stärker betroffen. In ihre Entwicklung können diese gar nicht mehr investieren. Sie können nur noch Schadensbegrenzung durch Anpassungsmaßnahmen betreiben, was aber auch zig Milliarden kostet. Diese Diskussionen werden in Scharm el-Sheich für heftige Kontroversen sorgen, müssen aber endlich angegangen werden.

Erwarten Sie Ergebnisse?
Ich erwarte, dass ernst und sachlich über diese komplexe Problematik diskutiert wird. Die Verhandlungen darüber werden aber Zeit brauchen.

Sollte sich Europa ein Beispiel an den USA und dem dortigen Inflation Reduction Act nehmen, durch den Milliardensubventionen für den Klimaschutz lockergemacht werden?
Ich denke, Europa kann erst einmal selber stolz sein auf die Entscheidungen, die es in den letzten Jahren und vor allem im letzten Jahr getroffen hat. Die eigenen Emissionen um 55 Prozent bis 2030 im Vergleich zu 1990 zu senken ist ein bedeutender Schritt vorwärts – und mehr als die USA bislang angekündigt haben.

Braunkohlekraftwerk

Die Industrie müsste ihren Ausstoß von Treibhausgasen erheblich reduzieren, um die Klimaziele bis 2030 zu erreichen.


(Foto: IMAGO/Jochen Eckel)

Welche Länder machen Ihnen am meisten Sorge? Und was ist von Russland zu erwarten?
Die geopolitischen Spannungen sind eine schwere Bürde für die Verhandlungen. Allerdings geht es in Scharm el-Sheich nicht um Verhandlungen zwischen einzelnen Staaten. Die Klimakonferenz ist eine Konferenz von insgesamt 193 Staaten, die alle grundsätzlich das Ziel haben, die Erderwärmung zu verlangsamen. Insofern darf der Krieg die Verhandlungen nicht so beeinträchtigen, dass kein gemeinsamer Weg gefunden werden kann.

Welche Rolle spielt der private Sektor? Könnte er fehlendes staatliches Geld ersetzen?
Den überwiegenden Teil der Transformation wird letztlich tatsächlich die Privatwirtschaft finanzieren, also Unternehmen und Banken. Viele sind schon sehr aktiv. Andere müssen jetzt entscheiden, ob sie auf Dekarbonisierung setzen oder noch einmal zehn Jahre abschöpfen, was abzuschöpfen ist.

>> Lesen Sie hier: „In den USA gibt es Geld, um zu investieren – in Europa gibt es Gesetze und Vorschriften“

Ist das ein Aufruf an die Privatwirtschaft, stärker in die Transformation zu investieren?
Von diesen Aufrufen gab es schon viele. Ich erinnere vielmehr die Finanzwirtschaft, daran zu denken, dass es nicht reicht, Finanzströme nur in einige wenige Länder zu leiten. Ein Großteil der Weltbevölkerung lebt nicht in den attraktivsten und größten Entwicklungsländern der Welt, sondern verteilt über Afrika, Asien, Lateinamerika. Auch dort müssen wir helfen, die Wirtschaft zu transformieren.

Die zunehmende Erderwärmung gefährdet unseren Wohlstand. Könnten wir das verhindern, wenn wir das Thema Klimaschutz ernster nähmen?
Die klimaschädlichen Treibhausgasemissionen sind das Nebenprodukt einer 250-jährigen Industrialisierung, die in vielerlei Hinsicht ein enormer Erfolg ist, uns Wohlstand gebracht hat. Inzwischen wissen wir um den Schaden, den die Emissionen weltweit anrichten. Klar ist: Ein Planet, der sich zunehmend erwärmt, kann gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Erfolg im Nu zunichtemachen. Insofern sind wir gut beraten, die Klimakrise sehr ernst zu nehmen.

Herr Steiner, vielen Dank für das Interview.

Mehr: USA stemmen „größte Investitionen aller Zeiten“ fürs Klima – und lösen in Europa Ängste aus



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