Kiew Dmytro Bondarenko ist für den schlimmsten Fall gewappnet. Er hat den Stauraum unter seinem Klappbett und fast jeden weiteren Winkel seiner Wohnung im Osten von Kiew mit Trinkwasser und unverderblichen Lebensmitteln gefüllt. Daneben finden sich Rollen mit Paketklebeband, um die Fenster zum Schutz vor radioaktivem Niederschlag zu versiegeln. Auch ein Gas-Campingkocher und Walkie-Talkies liegen bereit – ebenso wie Schusswaffen und Munition.
Neben der Waschmaschine stapeln sich Benzinkanister und Ersatzreifen, für den Fall, dass Bondarenko schnell die Stadt verlassen muss. „Jede Vorbereitung kann meine Überlebenschance erhöhen“, sagt der Ukrainer, der ein Messer und ein Erste-Hilfe-Set bei sich trägt.
Mehr als acht Monate nach Beginn der russischen Invasion fragen sich die Menschen in der Ukraine nicht mehr, ob ihr Land von Atomwaffen getroffen werden könnte. Vielmehr bereiten sie sich aktiv auf diese einst undenkbare Möglichkeit vor. An Esstischen und in Bars diskutieren viele darüber, welche Stadt wohl das wahrscheinlichste Ziel wäre oder welche Waffen zum Einsatz kommen könnten. Wie Bondarenko stocken etliche ihre Vorräte auf und schmieden Überlebensstrategien.
Der Kreml wirft der Ukraine vor, in russisch besetzten Gebieten an einer „schmutzige Bombe“ zu arbeiten – einem Sprengkörper, der bei der Detonation radioaktives Material freisetzt. Kiew weist das zurück und vermutet, dass Moskau selbst eine solche Bombe vorbereite und die Ukraine dafür verantwortlich machen wolle. „Natürlich nimmt die Ukraine diese Bedrohung ernst, denn wir verstehen, mit was für einem Land wir es zu tun haben“, sagt Präsidentenberater Mychajlo Podoljak mit Blick auf Russland.
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Die Angst vor Atomwaffen weckt schmerzhafte Erinnerungen bei Ukrainerinnen und Ukrainern, die die Katastrophe von Tschernobyl miterlebt haben. An dem Kernkraftwerk 100 Kilometer nördlich von Kiew war 1986 einer von vier Reaktoren explodiert, gewaltige Mengen an Radioaktivität traten aus. Die sowjetischen Behörden hielten den Unfall zunächst geheim, und Kiew wurde anders als die nahegelegene Stadt Prypjat nicht evakuiert.
Die Angst vor dem Einsatz von Atomwaffen ist groß
Switlana Boschko lebte damals als 26-jährige Journalistin in Kiew und war im siebten Monat schwanger. Ihr Mann überzeugte sie, in den Südosten des Landes zu fliehen. Als ihre Tochter zur Welt kam, war Boschkos erste Frage: „Wie viele Finger hat mein Kind?“ Die gesunde Tochter hat jetzt selbst ein einjähriges Kind und hat Kiew kurz nach Beginn der russischen Invasion verlassen.
Bei Boschko, die heute 62 Jahre ist, weckte der Kriegsbeginn am 24. Februar bittere Erinnerungen. „Es war ein Déjà-vu“, sagt sie. „Ich bin wieder von Gefühlen der Katastrophe und Hilflosigkeit überwältigt worden.“ Die Hauptstadt bereitet sich erneut auf eine Freisetzung von Radioaktivität vor. Mehr als 1000 Spezialkräfte sind dafür gerüstet, wie der Leiter der städtischen Sicherheitsbehörde, Roman Tkatschuk, erklärt. Eine große Zahl von Kaliumiodid-Tabletten und Schutzausrüstung stünden zur Verteilung parat.
Bondarenko begann nach eigenen Angaben mit seinen Vorbereitungen, nachdem das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja, das größte in Europa, erstmals von russischen Angriffen betroffen war. Nun habe er genug Vorräte, um mehrere Wochen zu überleben, und mehr als genug Benzin, um im Fall einer Atomkatastrophe das Land zu verlassen, sagt der 33-jährige App-Designer. Unter anderem hat er 200 Liter Trinkwasser gehortet sowie Kaliumiodid-Pillen, Atemschutzmasken und Einweg-Überziehschuhe.
In der Nähe der Front sind die Menschen indes nach eigenen Worten oft zu erschöpft, um sich Gedanken über neue Bedrohungen zu machen. So ergeht es etwa den Einwohnern in Mykolajiw, 500 Kilometer südlich von Kiew, in der Nähe der umkämpften Stadt Cherson. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung von einst 500.000 ist aus Cherson nach Mykolajiw geflohen. Von denjenigen, die blieben, haben viele inzwischen keine Kraft mehr, um noch zu gehen.
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Eine von ihnen ist die 73-jährige Valentina. Sie schläft mit etwa zehn Nachbarinnen in einem fensterlosen Keller und schämt sich dafür so sehr, dass sie nicht ihren vollen Namen nennen will. Über die Möglichkeit eines atomaren Angriffs sagt sie: „Ich halte jetzt alles für möglich.“ Ähnlich äußert sich eine andere Frau in der Notunterkunft, Tamara: „Im Ersten Weltkrieg wurde vor allem mit Pferden gekämpft, im Zweiten Weltkrieg waren es Panzer. Niemand schließt die Möglichkeit aus, dass es diesmal eine Atomwaffe sein wird. Die Waffen ändern sich, aber der Mensch ändert sich nicht, und die Geschichte wiederholt sich.“
Auch Switlana Boschko in Kiew fühlt die Erschöpfung. „Ich habe es so satt, Angst zu haben“, sagt die 62-Jährige und spricht über die Unterschiede zwischen 1986 und 2022. „Damals hatten wir Angst vor der Kraft von Atomen“, erinnert sie sich. „Diesmal sind wir in der Situation, dass uns jemand mit allen Mitteln auslöschen will, und das ist viel furchteinflößender.“
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