Brüssel Ein Begriff aus der nuklearen Abschreckungslogik erhält Einzug in die europäische Handelspolitik: Gegenschlagskapazität. Noch in diesem Jahr will die EU ein Gesetz beschließen, das es ihr erlauben würde, ökonomische Erpressungsversuche anderer Länder mit Sanktionen zu vergelten.
Als „Instrument gegen wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen“ oder „Anti-Coercion-Instrument“ wird das Vorhaben in Brüssel bezeichnet.
Die Kommission hatte ihren Vorschlag vor einem Jahr präsentiert, inzwischen haben sich die Mitgliedstaaten auf eine Position verständigt. Der aktuelle Gesetzentwurf liegt dem Handelsblatt vor und soll an diesem Mittwoch von den EU-Botschaftern angenommen werden.
Im nächsten Schritt muss das Dokument mit den Vorstellungen des EU-Parlaments in Einklang gebracht werden. Wenn alles glattgeht, könnte das Gesetzgebungsverfahren noch in diesem Jahr abgeschlossen werden.
Europa will sich so für Handelskriege rüsten. Erpressungsversuche, „bei denen ein Land Handels- oder Investitionshemmnisse in Kraft setzt“, verstießen gegen internationales Recht, argumentieren die EU-Mitgliedstaaten in dem neuen Entwurf. Eine „wirksame, effiziente und rasche Reaktion der Union auf wirtschaftlichen Zwang“ sei daher nötig.
In den vergangenen Jahren waren EU-Länder immer wieder von fremden Mächten unter Druck gesetzt worden. Ein aktuelles Beispiel ist Litauen, dessen Unternehmen wegen eines Streits mit China über den Namen der taiwanischen Vertretung in Vilnius boykottiert werden. Auch die Handelskonflikte mit den USA während der Präsidentschaft von Donald Trump haben nach Ansicht der Europäer gezeigt, dass die EU handelspolitisch aufrüsten muss.
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Die bloße Existenz der neuen Vergeltungsoption soll verhindern, dass sich andere Länder zu wirtschaftspolitischen Aggressionen gegen Europa verleiten lassen. Im Prinzip geht es also darum, mit der Möglichkeit zum Gegenschlag ein Schreckensgleichgewicht zu schaffen – analog zum Kalten Krieg.
„Ziel ist es, Länder davon abzuhalten, Handel oder Investitionen einzuschränken oder mit solchen Einschränkungen zu drohen, um eine Änderung der EU-Politik in Bereichen wie Klimawandel, Steuern oder Lebensmittelsicherheit zu bewirken“, erläutert die EU-Kommission. Die Gegensanktionen können dem Gesetzentwurf zufolge sowohl Unternehmen als auch Einzelpersonen treffen, die an den Maßnahmen gegen die EU oder eines ihrer Mitglieder beteiligt waren.
Allerdings haben die EU-Staaten den ursprünglichen Vorschlag an einem entscheidenden Punkt abgeschwächt. Um einen Machtzuwachs der Kommission zu verhindern, bestehen sie darauf, die Gegensanktionen selbst zu verhängen. Zwar nicht einstimmig, aber mit qualifizierter Mehrheit.
Im aktuellen Gesetzentwurf heißt es: „Die Umsetzungsbefugnisse sollten an den Rat übertragen werden.“ Dort sind die Mitgliedstaaten organisiert, die sich zudem die Möglichkeit vorbehalten wollen, die von der Kommission vorgeschlagenen Sanktionen zu verändern.
Die nationalen Regierungen befürchten diplomatische Verwerfungen
Der Grund dafür, dass die Mitgliedstaaten ein Mitspracherecht fordern, ist, dass die Grenzen zwischen Handels- und Außenpolitik verschwimmen. Die Handelspolitik liegt in der Alleinzuständigkeit der Kommission, die Außenpolitik ist Sache der Mitgliedstaaten.
Die nationalen Regierungen fürchten, dass wirtschaftliche Vergeltungsschläge der EU zu diplomatischen Verwerfungen führen. Daher wollen sie in die Entscheidungen eingebunden werden.
Aus Sicht der Kommission ist es jedoch problematisch, die Entscheidung den Mitgliedstaaten zu überlassen. Denn für konfliktbereite Länder wie China ergibt sich so die Möglichkeit, auf einzelne EU-Länder einzuwirken und eine qualifizierte Mehrheit im Rat zu verhindern.
Damit wird es weniger wahrscheinlich, dass die Gegensanktionen überhaupt verhängt werden können, wie aus der Kommission zu hören ist: Die abschreckende Wirkung des Instruments, der eigentliche Zweck des Vorhabens, werde auf diese Weise geschwächt.
Tschechische Ratspräsidentschaft will das Vorhaben bis Weihnachten durchbringen
Diese Kritik kommt auch aus dem EU-Parlament. „Abschreckungspotenzial wird das Instrument nur besitzen, wenn wir als EU mit einer Stimme sprechen“, sagt Bernd Lange, Vorsitzender des Handelsausschusses. Wenn sich Europa spalten ließe, „wird das System unbrauchbar“.
Daher sei es „unheimlich wichtig, dass wir einen europäischen Ansatz wahren“. Ziel müsse es sein, die EU in die Lage zu versetzen, „selbstbewusster auf der Weltbühne für eigene Interessen einzustehen“.
Das EU-Parlament hofft auf eine rasche Verständigung mit den Mitgliedstaaten. Auch die tschechische Regierung, die derzeit die Ratspräsidentschaft innehat, will das Gesetz vor Weihnachten beschließen. „Dafür müssen aber die Details im Gesetz passen“, mahnt Lange, „da liegt noch einige Arbeit vor uns.“
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