Bali, Washington Nach einem langen Tag auf dem G20-Gipfel schläft Olaf Scholz erst wenige Stunden, als er um drei Uhr nachts von seinem außenpolitischen Berater Jens Plötner geweckt wird. In einem polnischen Dorf nahe der ukrainischen Grenze sei eine Rakete eingeschlagen, zwei Menschen gestorben, teilt Plötner dem Kanzler in der Unterkunft auf Bali mit.
Sofort stellen sich Fragen: Hat sich Russland für die G20-Erklärung, in der die meisten Staaten den Krieg mit der Ukraine verurteilen, gerächt? Droht mit Polen ein Nato-Mitglied in den Ukrainekrieg hineingezogen zu werden? Die Nato-Staaten schalten in den Krisenmodus.
Scholz telefoniert in der Nacht mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda, auch zwischen Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Duda glühen die Drähte. Die westlichen G7-Staaten und die Nato beraumen in einem Ballsaal im Hotel von US-Präsident Joe Biden ein Notfall-Treffen an.
Der teilt am frühen Morgen laut der Nachrichtenagenturen dpa und AP mit: Es gebe Hinweise darauf, dass es sich bei dem Geschoss um eine Flugabwehrrakete aus der Ukraine handelt. Er soll von einer Rakete des Systems S-300 gesprochen haben.
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In einem Pressestatement hatte Biden es zuvor bereits als „unwahrscheinlich“ bezeichnet, dass die eingeschlagene Rakete von Russland aus abgefeuert wurde. „Es gibt vorläufige Informationen, die dagegen sprechen“, sagte Biden und verwies auf den Flugverlauf des Geschosses. Schon zu diesem Zeitpunkt spricht er davon, es könne auch eine ukrainische Abfangrakete gewesen sein.
Scholz gibt kurz nach Biden ein Pressestatement ab. Der Einschlag der Rakete mit zwei Todesopfern sei ein „schrecklicher Vorfall“, sagte der Kanzler. „Wir müssen jetzt das tun, was notwendig ist, nämlich aufklären.“ Zur Herkunft der Rakete sagte Scholz nichts.
Auch Polen Präsident Duda hatte sich zuvor vorsichtig geäußert. Zwar sei die Rakete russischer Bauart, doch solche werden auch von der Ukraine verwendet. „Wir haben derzeit keine eindeutigen Beweise dafür, wer die Rakete abgefeuert hat. Die Ermittlungen laufen.“ Polen versetzte dennoch einen Teil seiner Streitkräfte in eine höhere Bereitschaft.
Ein Sprecher der polnischen Regierung erklärte, man habe mit den Nato-Verbündeten beschlossen, zu überprüfen, ob es Gründe gebe, die Verfahren nach Artikel 4 des Nato-Vertrags einzuleiten. Artikel 4 sieht Beratungen der Nato-Staaten vor.
Die Ukraine forderte nach dem Raketeneinschlag eine geeinte Reaktion gegen Russland. Ein Nato-Gipfel unter Teilnahme der Ukraine sollte weitere Schritte ausarbeiten, schlug der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba vor und forderte eine bessere Flugabwehr und neue US-Kampfjets für Kiew. Ein aktuelles Statement zur Ukraine zur Nachrichtenlage am Morgen gibt es bisher nicht.
Zweitschwerste Luftangriffe seit Kriegsbeginn
Die Freude über die Erfolge auf dem ersten Gipfeltag in Bali währte damit nur wenige Stunden. Die Gruppe der 20 führenden Wirtschaftsnationen hatte sich am Dienstag überraschend geschlossen auf eine gemeinsame Erklärung verständigt, in der „die meisten“ Staaten den Krieg in der Ukraine „verurteilen“ und in der alle 20 Staaten die Drohung, Atomwaffen einzusetzen, ablehnen.
Mit so viel Einigkeit der G20 war im Vorfeld des Treffens auf Bali nicht gerechnet worden. Der Beschluss wurde inzwischen einstimmig angenommen In deutschen Regierungskreisen hieß es, der Gipfel sei „ein großer Erfolg“.
Doch Russlands Staatschef Wladimir Putin hatte bereits am Dienstag auf seine Weise auf die Demütigung in Bali reagiert. Er überzog die Ukraine mit einem der schwersten Luftangriffen seit Kriegsbeginn am 24. Februar. Ein Sprecher der ukrainischen Luftwaffe sprach von etwa 100 Raketen, die Russland abgefeuert habe. Ziel der Geschosse war unter anderem Kiew.
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Scholz verurteilte die Angriffe auf die Ukraine am Mittwoch. „Wir stellen fest, dass Elektrizitätswerke zerstört werden, dass Umspannleitungen getroffen werden, dass Wasserversorgung zerstört wird. Das ist keine akzeptable Form der Kriegsführung in diesem ohnehin ungerechtfertigten Krieg“, betonte der Bundeskanzler.
Noch deutlicher äußerten sich die G7 und die Nato in einer gemeinsamen Erklärung: „Wir verurteilen die barbarischen Raketenangriffe, die Russland am Dienstag auf ukrainische Städte und zivile Infrastruktur verübt hat.“ Die G7 und die Nato boten zudem Polen ihre volle Unterstützung bei den laufenden Ermittlungen zu dem Raketeneinschlag an.
In der sicherheitspolitischen Großkrise übernahmen die USA schnell die Führung. Biden lud die G7 und Nato sofort ins Hyatt-Hotel ein, in dem der US-Präsident auf Bali residiert. Wenige Stunden nach dem Raketeneinschlag in Polen veröffentlichte das Weiße Haus ein Foto, auf dem Biden zu sehen ist, wie er mit Polens Präsident Duda telefoniert. Es ist sehr früher Morgen, der Präsident trägt ein Poloshirt.
Das Gegenteil von Trump – doch der kandidiert wieder
Die schnelle Reaktion der USA und der Schulterschluss mit internationalen Verbündeten ist ein Kontrast zur Regierung von Donald Trump. „Wir werden uns voll und ganz in der Welt engagieren”, betonte Biden auf Bali. Wer an der Verlässlichkeit der USA zweifele, so seine Botschaft, brauche dies zumindest im Moment nicht tun.
Doch zeitgleich zum Krisentreffen der G7 meldet sich Donald Trump zurück. Der Ex-Präsident verkündete in seinem Golfressort in Mar-a-Lago, ins Rennen um das Weiße Haus für das Jahr 2024 einsteigen zu wollen. Bidens Vorgänger war dafür berüchtigt, globale Gipfel vorzeitig zu verlassen. Er drohte auch damit, die Nato aufzukündigen.
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Auf Bali wurde Biden gefragt, ob er etwas zu Trumps Kandidatur sagen wolle, er stand gerade an der Seite von Emmanuel Macron. Beide tauschten einen kurzen Blick aus. „Nicht wirklich”, erwiderte Biden und ging.
Nach der Aufregung über den Vorfall der Nacht gingen die G20 vorläufig wieder zum regulären Programm über. Am Morgen pflanzten die Staatschefs am Rande des G20-Gipfels Bäume in einem Mangrovenwald. Dabei posierten sie, mit Schaufeln in Händen, für die Kameras. Am Vortag hatten die G20 auf das traditionelle Familienfoto verzichtet.
Nicht mehr dabei war Russlands Außenminister Sergej Lawrow, der Putin am Vortag vertreten hatte. Lawrow hatte das G20-Treffen bereits am Dienstagabend während des Abendessens vorzeitig verlassen.
Nach dem Besuch des Waldes standen für die G20-Mitglieder eine weitere Arbeitssitzung sowie bilaterale Treffen auf dem Programm. So wird Scholz am Nachmittag unter anderem Indiens Premier Narenda Modi sowie den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan treffen.
Mehr: Explosion in Polen – Hinweise auf ukrainische Flugabwehrrakete.
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