Ulrich Kühn leitet am Institute for Peace Research and Security Policy (IFSH) den Forschungsbereich für Rüstungskontrolle und neue Technologien und kennt sich gut mit verschiedenen Waffensystemen aus. Nachdem er Bilder aus den sozialen Medien analysiert und sich mit Experten ausgetauscht hat, sagt er: Zum jetzigen Zeitpunkt ergibt sich ein „relativ klares Bild“.
Das sind seine Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Was wissen wir über das Raketenmodell?
„Wir gehen zum jetzigen Zeitpunkt davon aus, dass es sich um eine S-300-Rakete handelt. Das ist ein Luftabwehrsystem aus russischer Produktion“, sagt Ulrich Kühn. Das System stamme noch aus der Sowjetunion und werde von Russland seit vielen Jahren an diverse Länder verkauft, unter anderem an die Ukraine. „Die Ukraine hat selbst die S-300-Systeme und verwendet sie in diesem Krieg, um sich gegen russische Raketen schützen zu können.“
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Das System sei zum Beispiel geeignet, um die Stadt Lwiw zu schützen oder das Stromumschaltwerk dort – die Russen griffen solche zivilen Anlagen bekanntermaßen an. „Und das haben sie auch gestern wieder mit Hunderten Raketen getan“, sagt Kühn.
Wie genau wird diese Rakete gesteuert?
Die Rakete werde üblicherweise mit einem Radar-Leitsystem zusammengeschaltet, sagt der Experte und erklärt: „Das Radar sagt, es kommt eine Rakete im Anflug, vielleicht ein Marschflugkörper von russischer Seite. Und dann schießt man üblicherweise zwei von diesen S-300-Raketen ab, um die Marschflugkörper im Flug zu zerstören und quasi abzufangen.“ Die Rakete verfüge über eine Zielfunktion, um etwa Marschkörper zu tracken. Nach seinem Kenntnisstand sei es nach dem Abschuss nicht mehr möglich, die Rakete noch umzulenken.
Wie zielgenau ist diese Art von Raketen?
„Diese Raketen sind recht zielgenau. Aber wir sprechen von einem circa 40 Jahre alten System: Natürlich passiert es, dass solche Raketen auch mal in eine andere Richtung fliegen“, sagt Ulrich Kühn. Er weist aber noch auf ein anderes Risiko hin: „Es passiert, dass so eine Rakete nicht ihr Ziel trifft und weiterfliegt.“
Dieses Szenario erscheint im Kontext des Raketeneinschlags in Polen plausibel. Kühn sagt: „Wenn von Norden her eine Rakete Richtung Lwiw fliegt, dann schießt die ukrainische Raketenabwehr die S-300-Raketen in Richtung Norden ab. Wenn die ihr Ziel nicht treffen, fliegen sie weiter und landen unter Umständen genau dort, wo jetzt tragischerweise eine Rakete zwei polnische Bürger getötet hat.“
Wie wahrscheinlich ist es, dass es sich bei der in Polen eingeschlagenen Rakete um einen Fehlläufer handelt?
Auch das hält der Experte für denkbar: „Es ist möglich, dass das Tracking nicht richtig funktioniert. Technische Fehler passieren – gerade an einem Tag wie gestern, wo über hundert Raketen fliegen, die Abfangraketen noch nicht mitgerechnet.“ Er weist darauf hin, dass es auch in der Vergangenheit immer wieder Fälle von Fehlläufern gab.
Nato-Generalsekretär gibt Entwarnung: „Kein Hinweis auf absichtlichen Angriff“
Der Abschussort der Rakete war zunächst unklar: Werden Flugbahnen von Raketen nicht getrackt – ähnlich wie Flugzeuge?
Auch bei Raketen sei ein Tracking möglich – zum Beispiel über ein Bodenradarsystem, über das etwa Polen, die Slowakei und Deutschland verfügten, sagt der Wissenschaftler. Deutlich leistungsfähiger seien aber noch Infrarotsensorsatelliten, über die vor allem die Amerikaner verfügten.
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Die Chance, dass der Raketenflug der S-300 von westlicher Seite getrackt worden sei, sei „extrem hoch“, zumal die USA im Ukrainekrieg rund um die Uhr verfolgten, „wo die Raketen starten, wo sie langfliegen und wo sie einschlagen.“ Anhand der Satellitendaten sei es „ziemlich einfach möglich“ nachzuvollziehen, wo die Rakete herkam.
Die schnelle Reaktion der Amerikaner durch Präsident Joe Biden und die Aussage, dass die USA von einer ukrainischen Rakete ausgingen, lässt für Ulrich Kühn einen klaren Schluss zu: „Das heißt, die Informationen lagen den Amerikanern zu dem Zeitpunkt bereits vor.“
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