Riga Kasachstans Präsident Kassym-Schomart Tokajew ist in diesen Zeiten ein gefragter Gastgeber. Erst war Charles Michel da, der Präsident des Europäischen Rates. Dann reiste Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock an. Es folgte am vergangenen Mittwoch und Donnerstag EU-Chefdiplomat Josep Borrell, anders als Baerbock traf er Tokajew persönlich.
Dabei ist Europa nicht ohne Konkurrenz: Auch Chinas Präsident Xi Jinping war schon vor Ort, und mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan spielte Tokajew eine Runde Tischtennis.
Kasachstan hat sich gerade von Moskau distanziert und rückt so ins geopolitische Interesse der Weltpolitik: Wohin driftet der zentralasiatische Staat, der im Osten an China und im Norden an Russland grenzt? Wird er künftig in die Umlaufbahn Pekings geraten oder sich Richtung Europa orientieren?
Das hängt auch davon ab, wie sich das politische System des Landes entwickelt, ob es sich aus korrupten Strukturen befreien und ein Fundament aus Rechtsstaatlichkeit etablieren kann. Die vorgezogenen Wahlen, die am Sonntag stattfinden, werfen nun ein Schlaglicht auf die Perspektiven des Landes.
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Doch nicht nur die Frage nach der Entwicklungsfähigkeit des politischen Systems erregt derzeit das Interesse europäischer Politiker. Es ist die blanke Not, entstanden durch den Ausfall russischer Energielieferungen, die den Blick in Richtung Kasachstan lenkt. Denn der 19 Millionen Einwohner zählende Staat ist ein Rohstoffgigant, was nach Beobachtung von Alexandra Bykova Begehrlichkeiten weckt.
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Die Ökonomin und Kasachstanexpertin am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) bestätigt, dass sich „seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine die Kontakte zwischen Kasachstan und der EU intensiviert haben“. Dabei stehe „vor allem die Energiefrage im Fokus“.
Sebastian Hoppe von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bestätigt Bykovas Sicht: „Seit dem Krieg in der Ukraine verlagert sich die internationale Aufmerksamkeit nach Kasachstan, auch vonseiten der EU. Das fügt sich ein in die Diversifizierungsstrategie bei den Wirtschaftsbeziehungen.“
Westeuropa treibt vor allem eine Frage um: Kann das Land den Ausfall russischer Energielieferungen ersetzen? Kasachstan verfügt über mehr als 250 Gas- und Ölfelder, die von großen Konzernen wie Chevron, Eni, Total, Exxon Mobil, Royal Dutch Shell und British Gas betrieben werden.
Das Land besitzt Ölreserven von 30 Milliarden Barrel und ist größter Ölproduzent Zentralasiens. Die Erdöl- und Gasausfuhren machen 57 Prozent der Gesamtexporte aus, die EU ist bereits jetzt der größte Abnehmer von Öl aus Kasachstan.
Unlängst weckte Präsident Tokajew mit Blick auf die ausgefallenen russischen Lieferungen Hoffnungen in Europa: „Kasachstan ist bereit, sein Kohlenwasserstoffpotenzial zu nutzen, um die Lage auf den Märkten der Welt und Europas zu stabilisieren“, sagte er.
Allerdings drückte sein Energieminister Bolat Aktschulakow wenig später auf die Euphoriebremse. Die Ölförderung sei nicht vergleichbar mit einem Wasserhahn, den man einfach weiter aufdrehen könne, um größere Mengen zu erhalten. „Um solche Mengen an Öl zu fördern, muss man viel Geld in die Felder investieren und Bohrungen vornehmen“, sagte er. „Das erfordert viel Zeit und Geld.“
Ohnehin hat die EU nach Ansicht einiger Beobachter vergleichsweise spät das Potenzial des Landes entdeckt. „Russland, China, auch die USA sind schon lange interessiert an dem Land“, sagt Christoph Mohr, der die Vertretung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kasachstan und Usbekistan leitet.
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In den vergangenen Monaten beobachtet auch er, dass sich die Bemühungen vonseiten der EU „noch einmal intensiviert“ hätten. Wenige Tage vor der Wahl twitterte Borrell jüngst nach einem Treffen mit Tokajews Außenminister Muchtar Tileuberdi über „gemeinsame Möglichkeiten – wie Handel, Energie und die grüne Agenda“.
Tokajew ist seit 2019 im Amt, als er den autoritären Präsidenten Nursultan Nasarbajew ablöste. Nach einer Verfassungsänderung im Juni versprach er der Bevölkerung ein „neues Kasachstan“ und kündigte einen harten Kurs gegen Korruption und Vetternwirtschaft an. „Wir müssen die Lage dringend ändern“, sagte er vor der Wahl mit Blick auf den Mindestlohn von 60.000 Tenge, rund 125 Euro. „Es ist praktisch unmöglich, von diesem Geld zu leben.“
Zwar sind insgesamt sechs Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl zugelassen. Allerdings ist für Tokajew keine Alternative in Sicht, die Mitbewerber gelten als chancenlos. Der Amtsinhaber wird in dem Land von einem breiten Bündnis aus drei Parlamentsparteien, Gewerkschaften und Wirtschaftsorganisationen getragen.
Laut der geänderten Verfassung darf ein Präsident künftig nur noch einmal gewählt werden, aber die Amtszeit wurde von fünf auf sieben Jahre erhöht. Er hat versprochen, Familienmitglieder des Präsidenten nicht mehr – wie bisher üblich – auf Posten in Staatsunternehmen und Parteien zu setzen, und kündigte an, den Dialog zwischen Machtapparat und Zivilgesellschaft wiederzubeleben.
Auch internationale Wahlbeobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) heben die vielen Veränderungen hervor. Allerdings kritisieren sie, dass Empfehlungen für eine leichtere Registrierung von Kandidaten zur Wahl oder mehr Transparenz bei den Eigentumsverhältnissen von Medien nicht umgesetzt würden. Heikel sei auch, dass der Präsident etwa per Gesetz weiter einen besonderen Schutz seiner „Ehre und Würde“ genießt, was Kritik schwer mache.
Nach Ausschreitungen im Januar „noch immer sehr viel Druck im Kessel“
Erst zehn Monate ist es her, dass das öl- und gasreiche Land von blutigen Ausschreitungen erschüttert wurde. Mehr als 200 Menschen starben im Januar, als Proteste gegen hohe Preise und soziale Ungerechtigkeit in einen beispiellosen Machtkampf umschlugen.
Tokajew gab damals einen Schießbefehl gegen die Demonstranten, die er als „Terroristen“ bezeichnete, und bat Kremlchef Wladimir Putin, das von Russland dominierte Militärbündnis „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) zu Hilfe zu schicken. Die Soldaten sorgten rasch für Ruhe – und zogen wieder ab.
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Menschenrechtsgruppen legten Untersuchungsergebnisse vor, denen zufolge friedliche Demonstranten und Menschen, die nichts mit den Protesten zu tun hatten, von Strafverfolgungsbehörden und Militärangehörigen getötet wurden. Und auch im Vorfeld der Wahl am Sonntag haben kasachische Behörden in den letzten Wochen Aktivisten der Opposition festgenommen oder verurteilt, wie Medien und Nachrichtenagenturen melden.
„Wenn die Wahl so ausgeht, wie es alle erwarten, wird sie Tokajews Macht weiter festigen“, schätzt Kasachstanexpertin Bykova. „Er ist sehr aktiv, was die wirtschaftlichen Beziehungen zur EU angeht, in diesem Sinne käme das Ergebnis Brüssel zugute“, ist sie überzeugt. Doch auch sie sieht eine Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher und politischer Ebene: „Eine andere Frage ist, wie die EU die Wahl politisch bewerten wird. Diese beiden Komponenten sind durchaus widersprüchlich, denn mit Blick auf Demokratie oder Pressefreiheit besteht durchaus noch Verbesserungsbedarf.“
Nach Einschätzung von Mohr sind außerdem die Probleme, die zu den Protesten im Januar führten, noch nicht behoben: „Der Großteil der Demonstrierenden war in der Motivation geprägt von der sozialen Ungleichheit im Land. Weil sich die darunterliegenden Probleme nur schwer schnell beheben lassen, ist noch immer sehr viel Druck im Kessel.“
Das kann sich auch auf die Investitionsbereitschaft privater Unternehmen auswirken. Expertin Bykova erwartet zwar, „dass ausländische Investitionen in Energiesektor und Transport sowie verarbeitende Industrien zunehmen werden – auch in Form von Krediten“. Kasachstan dürfte aus eigenen Mitteln außerdem die Infrastruktur ausbauen. „Großes Interesse von Privatinvestoren beobachte ich momentan aber noch nicht“, sagt die Ökonomin.
Doch weitere soziale Spannungen bleiben programmiert. Seit Beginn des russischen Feldzugs gegen die Ukraine sind Hunderttausende Russen in das südliche Nachbarland geflüchtet, ein besonders großer Teil seit der Teilmobilmachung am 21. September dieses Jahres. Seither steigen in vielen Städten Kasachstans die Mieten drastisch an, teilweise werden alteingesessene Bewohner verdrängt. Auch die Preise für Lebensmittel steigen.
Russland, China oder Europa: Wird sich Kasachstan für eine dieser Optionen entscheiden? Experten halten das für unrealistisch. Viel eher bleibe die Regierung langfristig ihrem Ansatz der sogenannten multivektoralen Außenpolitik treu. „Russland ist in Kasachstan noch immer omnipräsent“, betont auch FES-Vertreter Mohr. „Allerdings hat Tokajew verstanden, dass man den russischen Vektor nun weniger und den EU-Vektor mehr bespielen muss, und das versteht die EU jetzt als Chance.“ Abgemeldet sei Russland in Kasachstans Außenpolitik allerdings keinesfalls.
„Die Wirtschaft ist natürlich ein Türöffner. Innenpolitisch befindet sich Kasachstan jedoch noch immer in einer schwierigen Lage“, merkt er an. Die Regierung habe aber verstanden, dass man „etwas tun muss“. Die Mehrheit der Bevölkerung, so Mohrs Eindruck, unterstütze Tokajews Reformkurs – „wenn diese Reformen denn auch implementiert werden“.
Mit Material von dpa.
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