Berlin Frau Deitelhoff, auf dem G20-Gipfel in Bali haben überraschend viele Länder den Krieg Russlands gegen die Ukraine verurteilt. Russland verliert Verbündete in der Welt. Könnte das die Befehlshaber in Moskau dazu bringen, ernsthaft Verhandlungen anzubieten oder gar den Krieg zu begrenzen oder zu beenden?
Kurzfristig und aus diesem Grund sicher nicht, dennoch rechnet sich Putin Chancen aus, den Krieg militärisch für sich entscheiden zu können. Je länger das nicht gelingt, könnte der Entzug von Unterstützung allerdings Wirkung zeigen, vor allem natürlich wichtiger Unterstützer wie etwa China.
Sie haben kürzlich die These aufgestellt, es könne Sicherheit nur mit Russland geben. Sie widersprachen damit SPD-Chef Lars Klingbeil, der meinte, es könne nur noch Sicherheit vor Russland geben. Fühlen Sie sich durch die Entwicklung in Bali bestärkt oder widerlegt?
Ich habe ihm nur zum Teil widersprochen. In der jetzigen Situation und den kommenden Jahren geht es vor allem um Abschreckung gegen Russland. Mittel- und langfristig ist das aber nicht ausreichend, da ja die Russische Föderation nicht verschwinden wird. Russland wird weiterhin ein großes Land mit erheblichen militärischen Fähigkeiten bleiben. Das heißt, mittel- und langfristig müssen wir eben doch darüber nachdenken, wie wir unsere Sicherheit mit Russland organisieren können.
Warum halten Sie die Wiederherstellung von Gesprächen für so wichtig?
Wir wissen aus der Geschichte, dass Ordnungen, die alleine auf Abschreckung setzen, erhebliche Instabilitäten aufweisen. Denken Sie an die Ordnung des Kalten Krieges. In den frühen Phasen hat er uns relativ häufig an den Rand der nuklearen Vernichtung gebracht. Weil es keine Kooperation und Koordination gab. Das hat sich erst in den 70er Jahren verändert.
Wie soll man mit einer Macht ein Auskommen finden, die anders als die Sowjetunion im Kalten Krieg lügt, täuscht und internationale Abkommen bricht?
Sie haben recht, wir werden es mit sehr schwierigen Verhandlungspartnern zu tun haben. Aber gleichzeitig können wir uns nicht die Verhandlungspartner, die wir gerne hätten, herbeizaubern. Das Maß an Kommunikation, die mir vorschwebt, ist eine, die darauf Rücksicht nimmt, die eine Politik der kleinen Schritte vornimmt, in der wir auf Sicht fahren.
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In kleinen Bereichen entsprechende Initiativen anschieben und immer überprüfen können, ob es funktioniert: Hält sich die andere Seite an die Vorgaben? Tut sie es nicht, hat man nicht viel investiert und kann auch wieder abbrechen. Wir müssen die Verlässlichkeit nach und nach wieder aufbauen, die uns momentan im Verhältnis zu Russland fehlt. Das wird funktionieren, wenn die andere Seite wieder ein Interesse daran hat, als verlässlicher Partner wahrgenommen zu werden. Das ist momentan ganz sicher nicht der Fall.
Was sollte Russland zu diesen Schritten bewegen?
Die Kosten des Krieges für Russland sind enorm. Die Nachteile, welche die russische Volkswirtschaft erleidet, sehen wir noch gar nicht. Es wird sie um Jahrzehnte zurückwerfen. Ich erwarte, dass sie in Zukunft ein großes Interesse daran entwickeln werden, wieder als verlässlicher Partner wahrgenommen zu werden.
Stellen Sie sich vor, dass der Westen direkt mit Russland verhandelt – über den Rücken der Ukraine hinweg?
Die Wiederherstellung der Kooperation mit Russland, über die wir gerade gesprochen haben, ist ein Projekt für die Zukunft. Es wäre doch hilfreich, wenn man etwa im Bereich taktischer Atomwaffen wieder zu Vereinbarungen finden könnte. Momentan ist die Chance, dass Russland und die Ukraine tatsächlich ernsthafte Verhandlungen aufnehmen, nahezu null. Es wundert mich aber nicht, dass Jake Sullivan, der Sicherheitsberater des US-Präsidenten, laut Medienberichten Gespräche mit Vertrauten Wladimir Putins führt, die das Risiko nuklearer Eskalation begrenzen sollen.
Für wie hoch halten Sie das Risiko, dass Russland in der Ukraine Nuklearwaffen einsetzt?
Es ist nicht das wahrscheinlichste Szenario, weil die Kosten in diesem Fall für Russland enorm hoch wären. Dann würde es seinen letzten Verbündeten verlieren – und China braucht es dringend. Mit Nordkorea und dem Iran ist auf Dauer kein Staat zu machen.
Was wir in den vergangenen Wochen hatten beobachten müssen, war, dass die USA und Russland sich gegenseitig in nuklearen Drohungen hochgeschaukelt hatten. Das ist eine gefährliche Dynamik. Das Risiko besteht darin, dass Aussagen oder Handlungen falsch interpretiert werden und dann kann es einen „point of no return“ geben. Dafür ist die Kuba-Krise das Paradebeispiel.
Vor Bali war Kanzler Olaf Scholz in Peking. Er ist für seine China-Reise kritisiert worden. Wie wichtig ist es, dass sich Xi Jinping und er gegen den Einsatz von Nuklearwaffen ausgesprochen haben?
Ich habe die Kritik an dieser Reise wirklich nicht verstanden. Warum sollte ein deutscher Kanzler nicht nach China reisen? Natürlich wollen wir mit China im Gespräch bleiben, die Frage ist worüber und wie. Zweiter Punkt: Ich hätte mir gewünscht, dass Xi Jinping den Angriffskrieg Russlands als völkerrechtlich illegitim verurteilt. Aber er hat zumindest ganz deutlich gemacht, dass er die Drohung mit Nuklearwaffen und deren Einsatz für inakzeptabel hält. Das war ein wichtiger Schritt.
Es gab auch Kritik, Scholz hätte gemeinsam mit anderen EU-Staats- und Regierungschefs fahren sollen. Teilen Sie das?
Also ganz ehrlich, was sich da im Moment an kritischer Blase entwickelt an der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, ist lächerlich. Alle europäischen Staaten betreiben eine eigenständige Außen- und Sicherheitspolitik und eine europäische Variante davon. Deutschland und China haben eine sehr komplexe, sehr dichte Kooperation und Koordination in vielen Bereichen. Da ist es völlig selbstverständlich, dass ein deutscher Kanzler dort hinreist.
Jede Kommunikation mit Staaten, bei denen unklar ist, wie sie zum Krieg Russlands stehen, ist in dieser Situation doch erst einmal begrüßenswert. Wir müssen ihnen Argumente und Anreize liefern, warum es nötig ist, in der internationalen Ordnung Regeln zu verteidigen.
Seit Russlands Angriff auf die Ukraine ist Wehrhaftigkeit das große Thema, zuvor waren viele deutsche Politiker stolz auf die „Kultur der militärischen Zurückhaltung“ in Deutschland. Wünschen Sie sich, dass die wieder gestärkt wird?
Die Kultur militärischer Zurückhaltung ist nicht verschwunden, sie muss in Krisenzeiten aber neu ausgehandelt werden. Das erleben wir gerade. Es ist ja gar nicht so, dass die gesamte Öffentlichkeit danach ruft, Leopard-II-Panzer in die Ukraine zu schicken. Vielmehr wird öffentlich darum gerungen, wenn man in Europa einem so aggressiven Gegner gegenübersteht.
Mehr Handelsblatt-Artikel zum Krieg in der Ukraine:
Die politischen Eliten versuchen diese notwendigen Antworten anschlussfähig zu machen an die Kultur der militärischen Zurückhaltung. Um die würde ich mir erst Sorgen machen, wenn eine Mehrheit etwa fordern würde, sich Rohstoffe in anderen Ländern durch militärische Einsätze zu sichern.
Ist Wladimir Putin ein Kriegsverbrecher?
Darum müssen Gerichte entscheiden und glücklicherweise nicht Friedens- und Konfliktforscher. Es gibt Hinweise darauf, dass er einer ist. Ich würde ihn einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher nennen, aber feststellen können das nur Gerichte.
Halten Sie es für wahrscheinlich, dass jemals eine Institution ein solches Verfahren anstrengt?
Das ist eine ganz schwierige Frage. Aber auch frühere Politiker, denen Verbrechen vorgeworfen wurden, schienen lange geschützt vom Arm des Gesetzes. Es gibt Fälle, wo solche Politiker ihr Amt verloren und dann nach einem Regierungswechsel doch vor einem internationalen Gericht landeten.
Kann Russland zu Reparationszahlungen verpflichtet werden?
Denken Sie nur den Sudanesen Omar al-Baschir oder den Serben Slobodan Milosevic. Vom Internationalen Strafgerichtshof könnte auch für Putin ein Haftbefehl ausgestellt werden, wenn der UN-Sicherheitsrat eine entsprechende Resolution erlassen würde. Es ist so lange unwahrscheinlich, wie er selbst im Amt ist und dieser Krieg läuft.
Der UN-Sicherheitsrat müsse dem zustimmen, sagten Sie. Russland hat ein Vetorecht, da müsste sich das Land vollkommen zur Demokratie hinwenden, damit so etwas passieren könnte…
Deshalb habe ich ja gesagt: Voraussetzung ist ein Machtwechsel. Womöglich hat eine künftige Regierung ein Interesse daran, den ehemaligen Machthaber aus dem Land zu bekommen.
Dieser Text ist zuerst im Tagesspiegel erschienen.
Mehr: Alle Entwicklungen im Ukrainekrieg gibt es hier im Liveblog
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