Berlin Polen liegt seit Jahren im Streit mit der EU-Kommission. Wegen der umstrittenen Justizreform, der Drangsalierung missliebiger Richterinnen und Richter sowie Eingriffen in die Pressefreiheit und Bürgerrechte sind Milliarden des EU-Corona-Wiederaufbaufonds eingefroren. Die Regierung sei auf gutem Wege, das Problem mit Brüssel zu lösen, sagt Finanzministerin Magdalena Rzeczkowska im Handelsblatt-Interview. Um keine Zeit verstreichen zu lassen, sollen zunächst Milliardenprojekte für grüne Transformation und Digitalisierung über polnische Mittel angestoßen werden.
Olaf Scholz’ 200 Milliarden Euro umfassenden „Doppel-Wumms“ sieht Rzeczkowska kritisch: Er könnte gleiche Wettbewerbsbedingungen auf dem Binnenmarkt zerstören. Deshalb fordert sie mehr europäische Koordinierung im Kampf gegen explodierende Energiepreise und Inflation, eine schnelle Gaspreisbremse und einen freiwilligen gemeinsamen Gaseinkauf der EU-Staaten.
Besonders engagieren will sich Polen beim Wiederaufbau der Ukraine. Die dafür nötigen 750 Milliarden Dollar sollen auch aus eingefrorenen russischen Vermögen kommen. Polnische Firmen sollten beim Wiederaufbau eine führende Rolle spielen.
Ministerin Rzeczkowska, wie bewerten Sie die bisherigen Schritte der EU-Mitgliedstaaten zur Bewältigung der Energiekrise und der Inflation?
Ganz Europa hat mit der Energiekrise und der Inflation die gleiche Herausforderung. Es ist wichtig, eine europäische Lösung für diese Probleme zu finden. Denn so wie es bisher mit nationalen Lösungen läuft, führt das dazu, dass die Länder mit größerer Haushaltsflexibilität eine bessere Wettbewerbsposition haben. Das ist keine gute Lösung für die EU, für den Binnenmarkt, für gleiche Wettbewerbsbedingungen und die europäischen Werte.
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Was genau fordern Sie? Ein gemeinsames EU-Programm wie nach der Coronakrise den Wiederaufbaufonds?
Darüber könnten wir nachdenken. Das Wichtigste ist aber, dass wir als Erstes unsere nationalen Maßnahmen koordinieren, damit sie nicht unfair sind für den Wettbewerb auf dem Binnenmarkt. Ein breit angelegtes europäisches Programm wie in der Coronakrise ist nicht die Lösung. Wir müssen die unterschiedliche Situation der Mitgliedstaaten wie etwa den Energiemix berücksichtigen, wenn wir ein europäisches Instrument schaffen wollen zur Unterstützung der Volkswirtschaften.
Wie sehen Sie das deutsche 200-Milliarden-Euro-Hilfspaket?
Ich kritisiere es nicht, ich verstehe, dass wir alle versuchen zu helfen, wie wir können. Aber wir sollten die Werte der EU berücksichtigen: den Binnenmarkt, gleiche Wettbewerbsbedingungen. Deshalb ist es wirklich wichtig, dass wir als Mitgliedstaaten von der EU koordiniert werden, einen gemeinsamen Rahmen vereinbaren und weitere Maßnahmen beschließen.
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Welche?
Eine schnelle Gaspreisobergrenze, also einen Mechanismus zur Verhinderung von Preisspitzen, und einen gemeinsamen Einkauf von Gasmengen auf freiwilliger Basis. Wir sind skeptisch gegenüber der derzeit diskutierten Verpflichtung, dass alle Mitgliedstaaten 15 Prozent ihres Gasbedarfs über einen gemeinsamen europäischen Einkauf decken sollen.
Wie stark werden die polnische Wirtschaft und die Staatsfinanzen von der Energiepreisinflation getroffen?
Wir spüren den Einfluss und die Folgen der Inflation und der Energiekrise ziemlich stark. Zu Jahresbeginn lag die Wachstumsrate bei acht Prozent. Aber dann hat unsere Wirtschaft die Folgen des Krieges und der Inflation zu spüren bekommen. Für nächstes Jahr rechnen wir mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 1,7 Prozent, vielleicht etwas weniger. Und wir gehen für 2023 von einer Inflation von 9,8 Prozent aus. Wir hoffen, dass es keine weiteren Schocks für die Wirtschaft gibt.
Wie viel gibt Ihre Regierung für die Bekämpfung dieser Energiekrise aus?
Wir geben Haushalten und Institutionen wie Schulen und Krankenhäusern Unterstützungszahlungen für ihre Energiekosten. Und wir haben einen Energiepreisdeckel eingeführt für Haushalte, Kommunalverwaltungen und öffentliche Einrichtungen. Alles das kostet etwas mehr als 40 Milliarden Zloty, umgerechnet 8,6 Milliarden Euro.
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Wie tief werden die Haushaltslöcher wegen der Energiepreishilfen?
Wir planen für das kommende Jahr mit 4,6 Prozent Haushaltsdefizit. Und wir warten darauf, was die EU in Bezug auf die Gaspreise tun wird.
Ein Vorschlag der EU-Kommission liegt vor, es sieht aber wegen der Zerstrittenheit der Mitgliedstaaten nicht nach einer Umsetzung aus. Aber zu ihrem Budgetdefizit: Die EU-Kommission hat wegen des Streits um Rechtsstaatlichkeit, Justizreform und Pressefreiheit derzeit 24 Milliarden Euro an Fördergeldern und zwölf Milliarden Euro an verbilligten Krediten aus dem Wiederaufbaufonds gesperrt. Inwieweit rechnen Sie für das Budget 2023 mit den EU-Geldern?
Wir haben in unserem Haushalt 2023 bereits all das Geld von der EU berücksichtigt, weil wir es bekommen sollten. Wir unternehmen alle notwendigen Schritte, um eine Lösung mit der EU-Kommission zu erreichen. Wir stehen kurz vor einer Vereinbarung.
Und wenn das Geld nicht kommt aus Brüssel?
Wir warten nicht auf das Geld. Sondern wir realisieren jetzt die von uns als vordringlich angesehenen Projekte. Dafür haben wir einen polnischen Entwicklungsfonds aufgelegt, Gelder fließen von Unternehmen, die ihre zuvor erhaltenen Coronahilfen zurückzahlen. Diese Projekte sind sehr wichtig für Polen, weil die meisten von ihnen der grünen Transformation und der Digitalisierung dienen. Beides ist seit dem Krieg in der Ukraine und der Energiekrise noch wichtiger. Wir finanzieren zunächst mit Mitteln des Entwicklungsfonds vor und machen unsere Arbeit, um im Dialog mit der EU-Kommission eine Vereinbarung zu bekommen.
Glauben Sie, dass Brüssel im nächsten Jahr die eingefrorenen Milliarden für Polen freigibt?
Darauf hoffe ich.
Wie viele Projekte müssten Sie streichen, wenn kein EU-Geld kommt?
Hoffentlich müssen wir nichts kürzen. Ich denke wirklich, dass ich diese Frage nicht beantworten muss, weil das Geld nach Polen kommen wird, weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben.
Aber das sehen nicht alle in Europa so wie Sie. Im Europarlament gibt es ja heftigen Widerstand.
Das ist Politik. Ich habe kein Heilmittel für Politik.
Polen ist einer der wichtigsten Unterstützer der Ukraine. Wie viel Unterstützung hat Polen schon für die Ukraine geleistet?
Polen ist sehr engagiert. Wir nehmen sehr viele Flüchtlinge aus der Ukraine auf, leisten militärische Hilfe und unterstützen Menschen in der Ukraine, den Winter zu überstehen, helfen beim Bau von Unterkünften für Binnenvertriebene. Schon jetzt haben wir 7,2 Milliarden Euro bereitgestellt.
Wie viel Geld wird für den Wiederaufbau der Ukraine benötigt?
Der Gesamtbedarf liegt bei 750 Milliarden Dollar. Das kann natürlich noch mehr werden, weil die Bombardierungen und die russische Aggression ja weitergehen. Für den Wiederaufbau ist eine koordinierte Anstrengung wichtig, denn es gibt viele Parteien, viele Länder, viele Institutionen, Finanzinstitute, private Unternehmer, private Institutionen, die sich finanziell und auch mit ihren Unternehmen engagieren wollen. Dies muss koordiniert werden.
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Wie am besten?
Wir müssen eine Plattform für die Zusammenarbeit beim Wiederaufbau schaffen. So wie es sie mit der Rammstein-Gruppe für militärische Hilfe gibt. Dabei müssen die EU und die Ukraine die führende Rolle bekommen, denn es geht ja um ein künftiges EU-Mitglied Ukraine.
750 Milliarden sind eine gewaltige Summe, warum wird so viel gebraucht?
Wenn es um den Wiederaufbau geht, denken wir an die Ukraine bereits als EU-Mitglied. Es geht also nicht einfach um Wiederherstellung, sondern um das Build-back-better-Prinzip, also den Wiederaufbau nach modernen europäischen Standards, Klimaschutzmaßnahmen, Energieeffizienz und all dieses.
Wie sollen die 750 Milliarden zusammenkommen, wer soll das bezahlen?
Neben den Hilfen öffentlicher Institutionen und privater Unternehmen muss vor allem das beschlagnahmte russische Vermögen eingesetzt werden.
Wie viel Geld könnte Ihrer Meinung nach aus konfiszierten russischen Geldern kommen? Bisher sind das wohl nur eingefrorene Vermögenswerte. Sie wurden noch nicht beschlagnahmt.
Ja, sie wurden zumeist noch nicht beschlagnahmt, sondern es sind eingefrorene Vermögenswerte. Der Betrag, den ich kürzlich dazu gehört habe, sind etwa 350 Milliarden Dollar. Es geht also um ziemlich viel Geld. Natürlich gibt es einige rechtliche Probleme, aber ich denke, dass sie gelöst werden.
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Welche Rolle sollte Ihrer Meinung nach Polen beim Wiederaufbau der Ukraine spielen?
Wir waren vor dem Krieg einer der wichtigsten Partner für die Ukraine. Polnische Unternehmen zählten zu den größten Lieferanten der Ukraine und gleichzeitig waren sie einer der wichtigsten ausländischen Investoren in der Ukraine. Dahin wollen wir zurück in der Zeit des Wiederaufbaus. Polen spielt hier meiner Meinung nach eine wirklich große Rolle, um der Ukraine beim Wiederaufbau zu helfen, um Mitglied der EU zu werden.
Wie das?
Polen hat der Ukraine schon immer bei der Transformation geholfen, und wir können jetzt auch ein gutes Beispiel sein für die nötigen Reformen der öffentlichen Verwaltung, für das Funktionieren des Finanzsystems und dafür, Teil eines modernen Europas zu werden. Polnische Firmen stehen bereit für den Wiederaufbau von Straßen, Brücken, Wohnquartieren und Energienetzen. Unsere Unternehmen wissen, wie man Geschäfte in der Ukraine macht. Und sie sind bereit, zurückzukehren. Sie sind sogar jetzt schon offen für Investitionen dort, trotz der noch bestehenden Risiken. Daher ist es wichtig, Maßnahmen zur Absicherung von Investoren zu finden.
Vielen Dank für das Interview.
<< Den vollständigen Artikel: Magdalena Rzeczkowska: Polens Finanzministerin: „Wir warten nicht auf das Geld aus Brüssel“ >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.