Dec 7, 2022
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Bilanz nach einem Jahr: Resignation statt Euphorie – Die Ampel brachte Fortschritt, aber anders als geplant

Written by Martin Greive

Berlin Exakt ein Jahr nach der feierlichen Unterzeichnung des Koalitionsvertrags am 7. Dezember 2021 kommen Kanzler Olaf Scholz (SPD) und seine Minister von SPD, Grünen und FDP an diesem Mittwoch zur Kabinettssitzung zusammen. Anstoßen wollen sie in der Sitzung auf das einjährige Jubiläum nicht. Das, so ein Kabinettsmitglied, sähe in diesen von Krieg geprägten Zeiten deplatziert aus.

Auch sonst ist vielen Ampelpolitikern nach dem ersten Jahr nicht unbedingt zum Feiern zumute. Dafür ist die Stimmung auch unter den Koalitionären nach dem ersten Jahr zu schlecht. Dabei wollte die Ampel bei Amtsantritt eigentlich alles anders machen. Vertrauensvoll und ohne „Durchstechereien“ wollten SPD, Grüne und FDP zusammenarbeiten, den Stillstand der Ära Merkel durchbrechen und „mehr Fortschritt wagen“.

Doch die Begeisterung verflog schnell. Auch, aber längst nicht nur wegen des Ukrainekriegs, der die Ampelagenda vollständig über den Haufen warf. „Es war eigentlich nie harmonisch“, sagt ein ranghohes Regierungsmitglied. „Die anfängliche Euphorie ist Resignation gewichen“, konstatiert Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa.

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Dabei gab es durchaus Fortschritt – allerdings auf ganz andere Art und Weise, als es sich die Ampel vorgenommen hatte. Fortschritt gelang durch die Neuausrichtung der Außen- und Verteidigungspolitik als Reaktion auf die bis Kriegsausbruch dramatisch unterschätzte sicherheitspolitische Bedrohungslage, die von Russland ausgeht.

Zweifel an der „Zeitenwende“

“In vielen Dimensionen hat die Regierung entschlossen reagiert und umgedacht”, sagt die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. “Die Zeitenwende brachte das Sondervermögen für die Verteidigung, man hat sich zu Waffenlieferungen and die Ukraine entschlossen und Sanktionen verhängt.”

In seiner historischen „Zeitenwende“-Rede am 27. Februar brach Scholz in gut 30 Minuten mit 30 Jahren deutscher Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Doch noch ist nicht klar, ob die Rede wirklich eine Sternstunde deutscher Politik war oder ob sie als Symbol deutscher Entscheidungsschwäche in die Geschichte eingeht. Die Zweifel, ob der sich als „Macher“ inszenierende Kanzler die „Zeitenwende“ auch umsetzt, sind jedenfalls groß.

“Nicht immer wird allerdings schnell genug und konsequent genug gehandelt: die Waffenlieferungen an die Ukraine nur mit Verzögerung und noch immer nicht im nötigen Umfang”, sagt Grimm. Und die Nachrüstung der Bundeswehr droht in bürokratischen Mühlen zermahlen zu werden.

Hinzu kommt eine nach Ansicht von Experten und Militärs heillos überforderte Verteidigungsministerin. All das, was in der Rede angekündigt wurde, werde sehr „langsam und zögernd umgesetzt“, konstatiert Liana Fix vom Council of Foreign Relations. Ein Eindruck, der sich im In- und Ausland immer mehr verfestigt hat.

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Zugleich ist bei den Verbündeten auch von verstärkten deutschen Alleingängen die Rede. So wurde vom 200 Milliarden Euro schweren Energiefonds, von Scholz als „Doppel-Wumms“ deklariert, niemand in Kenntnis gesetzt. Weder die EU-Kommission in Brüssel noch die Regierung in Paris.

Aus Abhängigkeit von Russland befreit

Fortschritt erzielte die Ampel in der Energiepolitik. Dass die Koalition Deutschland aus der fatalen Umklammerung der russischen Energieabhängigkeit befreite und dass diese ökonomische Operation am offenen Herzen ohne den befürchteten Kollaps der deutschen Volkswirtschaft gelang, darf die Ampel als Erfolg verbuchen. Die Gasspeicher sind voll, heikle Rettungsmanöver von Energieversorgern wie der deutschen Gazprom-Tochter gelangen ohne große Nebengeräusche, Versorgungsengpässe scheinen diesen Winter auszubleiben.

Aber es gab auch eine Reihe von Fehlern im Krisenmanagement. So behauptet Scholz bis heute, sofort nach Regierungsübernahme alle Vorbereitungen für einen Lieferstopp aus Russland getroffen zu haben. Aber selbst Koalitionsvertreter räumen ein, man habe noch sehr lange damit gerechnet, dass Russland zumindest 30 Prozent der ursprünglichen Menge an Gas liefern werde. Eine Fehleinschätzung, wie sich zeigen sollte.

Gewürge um die Gasumlage

Ein teilweise chaotisches Bild gab die Regierung bei der Abfederung der Energiekrise ab. Bei den Entlastungspaketen vergaß die Ampel zunächst Studenten und Rentner, um als Ausgleich beim nächsten Paket mit dem Ausschütten nach dem Gießkannenprinzip vor den eigenen digitalen Unzulänglichkeiten zu kapitulieren. Der deutsche Staat ist bis heute nicht in der Lage, Geld auf direkte Weise an seine Bürger auszuzahlen. Weshalb auch Gutverdiener von den Hilfen profitieren.

Hinzu kam das Gewürge um die Gasumlage, das zunächst auf Unverständnis stieß, um dann in Wut umzuschlagen. Zwar folgte kurz darauf ein großer Energie-Abwehrschirm. „Wir haben 200 Milliarden Euro mobilisiert, um in diesem, dem nächsten und dem übernächsten Jahr dafür Sorge zu tragen, dass Strompreise, Gaspreise und Fernwärmepreise nicht durch die Decke gehen“, sagte Scholz in seiner jüngsten Videobotschaft.

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Doch obwohl die Ampel einen solch gigantischen Schutzschirm über Bürger und Unternehmen gespannt hat, ist die Enttäuschung in der Bevölkerung groß. „Den Verheißungen des Kanzlers glaubt kaum noch jemand“, urteilt Meinungsforscher Güllner.

Zustimmung im Sinkflug

So hat die Zufriedenheit mit der Bundesregierung seit ihrer Amtsübernahme stark abgenommen. 64 Prozent der Menschen in Deutschland sind mit der Regierung inzwischen unzufrieden. Zufrieden sind nur 29 Prozent. Mit Bundeskanzler Scholz sind 58 Prozent unzufrieden. Laut Umfragen kämen die drei Ampelparteien zusammen nur noch auf 44 Prozent. Während die Kanzlerpartei SPD 18 Prozent erzielt, ist die CDU mit 30 Prozent weit enteilt.

Dabei hielt die Koalition durchaus Wort und setzte zentrale Projekte um, die sie im Koalitionsvertrag angekündigt hatte: Der Mindestlohn stieg auf zwölf Euro, das Bürgergeld wird eingeführt, Kindergeld, Wohngeld und Kinderzuschlag wurden kräftig erhöht, die Schuldenbremse soll 2023 eingehalten werden. Außerdem sei es ein Ziel gewesen, „dass Deutschland klimaneutral wirtschaften kann“. Deshalb sei eine Reihe von Gesetzen beschlossen worden, um die erneuerbaren Energien voranzubringen, sagte Scholz.

Doch Zweifel an der „Fortschrittskoalition“ waren schon vor Ausbruch des Ukrainekriegs aufgekommen. Die freigegebene Abstimmung über die Impfpflicht endete im Debakel. Die Impfpflicht kam nicht, schonungslos deckte Corona so schon zu Beginn die tief angelegten inneren Konflikte der Koalition auf.

Dauerfehde zwischen Lindner und Habeck

In der Energiekrise gingen die Streitereien dann weiter. Wieder wurden Konflikte nicht vertrauensvoll, sondern auf offener Bühne ausgetragen. Insbesondere Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) lieferten sich eine Fehde, wer die Gasumlage verbockt habe und ob die Schuldenbremse noch zeitgemäß sei.

Streit hat in der Politik immer schon allen geschadet. Und so stehen inzwischen alle drei Spitzenpolitiker der Regierungsparteien gerupft da. Habeck, zunächst gefeiert, wurde durch die Pannen bei der Gasumlage, die die SPD für Angriffe nutzte, auf Normalmaß zurechtgestutzt.

Die Kritik an Habeck wurde mit der Zeit immer stärker. So sagt die Wirtschaftsweise Grimm, die Versuche, alles möglichst gerecht zu machen und teilweise stärker staatlich zu steuern dämpften letztendlich die Anreize, in den Ausbau der Energieversorgung zu investieren – etwa bei der Erneuerbaren oder den Wasserstoffnetzen. “Diese Debatten verzögern das Überwinden der unmittelbaren Krise.”

Auch hat sich gezeigt, so Grimm, “dass wir noch unsere Hausaufgaben machen müssen”  So müssten die auch Handelsabhängigkeiten und Abhängigkeiten bei kritischen Rohstoffen – gerade von China – abgebaut werden.

Auch Lindner steht nach dem ersten Jahr vor einem schwierigen Zeiten. „Der Finanzminister enttäuschte – wie schon nach der Wahl 2017 – die Erwartungen der Kernklientel seiner Partei, den klassischen Mittelstand“, sagt Güllner. Dass Lindner massenweise Schulden in Nebenhaushalten parkt, verzeihen ihm die Wähler bislang nicht. Bei allen vier Landtagswahlen war die FDP die große Verliererin. Auch für die SPD verlief das Wahljahr durchwachsen, NRW ging verloren. Rückenwind kam aus Berlin jedenfalls nicht.

Die Koalition müsse angesichts der Realitäten unbeliebt sein, sagt ein Regierungsmitglied. Anders als in der Finanz- oder Coronakrise erleiden die Deutschen jetzt echte Wohlstandsverluste. Die Gasrechnung explodiert, an der Zapfsäule mussten die Bürger ebenso Preiserhöhungen verschmerzen wie im Supermarkt.

Scholz demonstriert Führungsanspruch

Und, was heute oft vergessen wird: Viele Kanzler hatten ein schwieriges erstes Jahr, auch Gerhard Schröder (SPD) oder Angela Merkel (CDU). Tatsächlich schien sich Krisenkanzler Scholz zuletzt etwas freizuschwimmen. Die Waffendebatte ist verstummt, stattdessen rühmen die Ukrainer, wie sehr ihnen die deutschen Luftabwehrsysteme helfen.

Der Gebrauch der Richtlinienkompetenz im Streit um die Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke im Oktober war im Ergebnis zwar nur die Verkündung des naheliegenden Kompromisses, Eindruck gemacht hat der ungewöhnliche Schritt dennoch.

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Auch in der Außenpolitik konnte Scholz mit seiner umstrittenen Chinareise im November einen wichtigen Punkt machen. Dort gelang es ihm, Staatschef Xi Jinping davon zu überzeugen, öffentlich vor dem Einsatz von Atomwaffen zu warnen. Ebenso drückte er gegen großen Widerstand den Einstieg des chinesischen Staatsunternehmens Cosco am Hamburger Hafen durch und demonstrierte seinen Führungsanspruch.

Scholz und seine Leute sind weiter überzeugt: Abgerechnet wird zum Schluss. Und 2025 müsse es erst mal eine bessere Alternative geben. Der haushohe Rückstand in den Umfragen lässt die SPD daher kalt. Auch 2021 habe die Union kurz vor der Wahl angeblich uneinholbar in Führung gelegen. Am Ende hieß der Kanzler: Olaf Scholz.

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