Dec 7, 2022
130 Views
Comments Off on Analyse: Ein Jahr Ampel-Koalition – Das ist die Bilanz der wichtigsten Minister
0 0

Analyse: Ein Jahr Ampel-Koalition – Das ist die Bilanz der wichtigsten Minister

Written by pinmin

Berlin Anstoßen wollen Olaf Scholz und die Ministerinnen und Minister nicht, wenn das Kabinett am Mittwoch ein Jahr nach Start der Ampelkoalition zusammenkommt. Das, so ein Kabinettsmitglied, sähe in diesen von Krieg geprägten Zeiten deplatziert aus. Auch sonst ist vielen Ampelpolitikern nach dem ersten Jahr nicht unbedingt zum Feiern zumute.

Dafür ist die Stimmung auch unter den Koalitionären nach dem ersten Jahr zu schlecht. Dabei wollte die Ampel bei Amtsantritt eigentlich alles anders machen. Vertrauensvoll und ohne „Durchstechereien“ wollten SPD, Grüne und FDP zusammenarbeiten, „mehr Fortschritt wagen“. Doch die Begeisterung verflog schnell. Auch, aber längst nicht nur wegen des Ukrainekriegs.

„Es war eigentlich nie harmonisch“, sagt ein ranghohes Regierungsmitglied. „Die anfängliche Euphorie ist Resignation gewichen“, konstatiert Forsa-Chef Manfred Güllner.

Dabei gab es durchaus Fortschritt – allerdings auf ganz andere Art und Weise, als es sich die Ampel vorgenommen hatte. Fortschritt gelang durch die Neuausrichtung der Außen- und Verteidigungspolitik als Reaktion auf die bis Kriegsausbruch dramatisch unterschätzte sicherheitspolitische Bedrohungslage, die von Russland ausgeht.

Top-Jobs des Tages

Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.

Insgesamt gab es im Kabinett viele Überraschungen: Aufsteiger, Absteiger, Wiederauferstandene, Generalausfälle. Die Bilanz der wichtigsten Ampelminister im Einzelnen:

Robert Habeck (Grüne): Der gestutzte Krisenheld

Er werde nun dem Volk dienen und nicht mehr in erster Linie Parteiinteressen verfolgen, das war das Versprechen von Robert Habeck. Tatsächlich war der Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister wie kein Zweiter in der Ampelkoalition zum Pragmatismus gezwungen.

>>Lesen Sie hier: Ein Jahr Ampel-Koalition – Was vom Aufbruch blieb

In den zwölf Monaten seiner Amtszeit hat er mit vielen grünen Prinzipien brechen müssen. Braunkohlekraftwerke bleiben länger am Netz, die drei verbliebenen Atomkraftwerke laufen länger als geplant, LNG-Terminals werden installiert. Habeck selbst ist sich nicht zu schade, in Katar für Deutschland zu werben. Noch im Frühjahr mobilisiert er Milliarden, um damit die Erdgasspeicher zu befüllen.

Wirtschaftsminister Robert Habeck

Der gestutzte Krisenheld.


(Foto: AP)

Nebenbei verstaatlicht Habeck Energiekonzerne und arbeitet angesichts des dramatischen Anstiegs der Gas- und Strompreise an Entlastungen für Wirtschaft und Verbraucher. Vor wenigen Tagen gab sein Haus eine Liste der Vorhaben heraus, mit denen sich das Ministerium seit Januar befasst hat. Sie umfasst 29 Gesetzentwürfe und 35 untergesetzliche Regelungen. Ein rekordverdächtiger Wert.

Allerdings musste Habeck nach der verpatzten Gasumlage auch harte Kritik einstecken. Vorher als großer Krisenmanager gefeiert, folgte der Absturz in den Beliebtheitswerten.

Christian Lindner (FDP): Der Gebeutelte

Das Bundesfinanzministerium sollte es für Christian Lindner unbedingt sein. Entsprechend euphorisch startete der FDP-Chef als Finanzminister. „Ich wäre bereit, Eintritt zu zahlen, um ins Bundesfinanzministerium zu dürfen“, scherzte er zu Beginn seiner Amtszeit.

Seitdem hat Lindner in einem Jahr Ampelkoalition 84 Vorhaben durch das Kabinett gebracht, für 25 Gesetzentwürfe war er federführend zuständig und hat an zwölf Treffen der EU-Finanzminister teilgenommen. Doch es gibt Zahlen, in denen sich Lindners Leistungsnachweis bisher nicht wie erhofft niederschlägt: Vier Landtagswahlen gingen krachend verloren, in Umfragen steht die FDP derzeit nur bei fünf bis sieben Prozent.

Finanzminister Christian Lindner

Als Finanzminister musste Lindner Dinge beschließen, die an der Basis erklärungsbedürftig sind. Die Schuldenaufnahme im Haushalt fällt viel höher aus als zunächst geplant. Zwar setzte Lindner durch, dass im kommenden Jahr die Schuldenbremse wieder greift – doch gleichzeitig hat er in Nebenhaushalten neue Schulden in Höhe von 360 Milliarden Euro geparkt.

Allerdings hat Lindner als Finanzminister auch viel mehr umsetzen können, als sich die FDP vor einem Jahr erhoffen konnte. Sein Inflationsausgleichsgesetz entlastet die Bürger um 50 Milliarden Euro, hinzu kommen Entlastungspakete wegen der Energiekrise. Gleichzeitig hat Lindner die Forderungen der Koalitionspartner nach Steuererhöhungen abgewehrt. Für ihn besteht deshalb auch ein Jahr nach dem Start der Ampel kein Zweifel: Die Wahl des Finanzressorts war die richtige Entscheidung.

Christine Lambrecht (SPD): Der Generalausfall

Seit Ausbruch des Ukrainekriegs muss die Frau, die lieber Innenministerin geworden wäre, die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ exekutieren – und wirkt dabei überfordert. Vom Helm-Angebot an die Ukraine über den Hubschrauber-Mitflug ihres Sohnes bis zum unglücklichen Munitions-Bittbrief an Finanzminister Lindner und das vorschnell ausgeplauderte Patriot-Angebot an Polen – oft entstand der Eindruck, Lambrecht fehle die Sensibilität für die Größe der Aufgabe.

Lambrecht hat zwar das Beschaffungsbeschleunigungsgesetz auf den Weg gebracht, doch eine Vision, wo sie mit der Bundeswehr hinwill, hat sie nicht. Dabei rennt die Zeit.

Verteidigungsministerin Christine Lambrecht

Bis 2025 will Deutschland der Nato eine einsatzbereite Division zur Bündnisverteidigung bereitstellen. So hat es Scholz versprochen.  

Ob Lambrecht bis zum Ende der Legislaturperiode durchhält, ist offen. Sollte Innenministerin Nancy Faeser als SPD-Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl in Hessen antreten, würde für Lambrecht vielleicht doch das Wunschressort frei. Und SPD-Chef Lars Klingbeil könnte Verteidigungsminister werden.

Hubertus Heil (SPD): Die Stütze des Kanzlers

Beim Bürgergeld musste Arbeits- und Sozialminister Hubertus Heil noch eine Extrarunde im Vermittlungsausschuss drehen – doch am Ende kann „die größte Sozialreform seit 20 Jahren“ doch fristgerecht zum 1. Januar in Kraft treten. Der Arbeitsminister hat damit ein Kernversprechen der SPD umgesetzt und Hartz IV per Reform abgelöst.

Auf dem 50-Jährigen ruhen hohe Erwartungen: Er muss die wichtigsten Projekte umsetzen, mit denen die SPD Wahlkampf gemacht hat. Den Mindestlohn, ein erstes Rentenpaket und das Bürgergeld hat der Minister aus dem niedersächsischen Peine schon geliefert.

Arbeitsminister Hubertus Heil

Die Stütze des Kanzlers.


(Foto: IMAGO/Christian Spicker)

Für die Reform der Fachkräfteeinwanderung, die ebenfalls Heil verantwortet, hat das Kabinett zumindest schon die Eckpunkte verabschiedet.

Unter der bislang eher enttäuschenden Riege der SPD-Minister ist Heil die große positive Ausnahme – und damit Scholz‘ Stütze.

Karl Lauterbach (SPD): Der Entzauberte

Mit Karl Lauterbach als Gesundheitsminister hatten die wenigsten gerechnet. Er wolle die Pandemie beenden, versprach er bei seinem Amtsantritt – und danach sieht es auch aus. Die Winterwelle verläuft bislang mild. An den wenigen verbliebenen Maßnahmen wie der Isolationspflicht für Infizierte will Lauterbach aber festhalten.

Beliebtheit hat ihm seine Coronapolitik nicht eingebracht. Im Politbarometer geht es für Lauterbach kontinuierlich abwärts. Dass er die Impfpflicht vor allem wegen des Widerstands in seiner Koalition nicht durchsetzen konnte, war die große politische Niederlage in seinem ersten Amtsjahr. 

Gesundheitsminister Karl Lauterbach


(Foto: IMAGO/Jürgen Heinrich)

Lauterbach versucht nun im Eiltempo, die Krisen im Gesundheitswesen anzugehen, die die Pandemie verdeckt hat. Die marode Kliniklandschaft will er mit der „größten Reform seit 20 Jahren“ modernisieren. Ähnlich marode sind die gesetzlichen Krankenkassen. Eine Finanzreform hatte Lauterbach für dieses Jahr versprochen, es wurde allerdings ein Sammelsurium von kleineren Maßnahmen. 

Der große Wurf soll dann nächstes Jahr kommen. Kritiker sehen bereits eine weitere Legislatur ohne dringend nötige Reformen verstreichen. Für ein solches Urteil ist es noch zu früh. Aber: Lauterbach muss jetzt liefern.

Annalena Baerbock (Grüne): Die Wiederauferstandene

Handfeste Erfolge sind in der Außenpolitik schwer zu erreichen. Vor dieser Herausforderung stand auch Annalena Baerbock, als sie vor einem Jahr das Amt der Außenministerin antrat. Waren viele anfangs skeptisch, überzeugte sie jedoch insbesondere zu Beginn der Ukrainekrise mit ihrem Auftreten ihre Kritiker.

Obwohl in der Diplomatie Worte oft auf die Goldwaage gelegt werden, hat Baerbock auf internationaler Bühne häufig Klartext geredet. Mit Ausnahme der Kritik aus China ist sie dafür nicht nur im Ausland beliebt – auch unter den deutschen Wählern trifft sie offenbar einen Nerv. Im jüngsten ZDF-Politbarometer schnitt sie erneut am besten von allen Spitzenpolitikern ab.

Außenministerin Annalena Baerbock

Als ein Erfolg ihrer bisherigen Amtszeit gilt die breite Zustimmung im UN-Menschenrechtsrat in Genf Ende November für eine Resolution gegen den Iran, für die sich Baerbock eingesetzt hatte. Kritiker bemängeln jedoch, dass jenseits großer Worte ansonsten noch immer zu wenig Unterstützung für die Protestierenden im Iran aus Deutschland kommt.

Ein weiteres wichtiges Thema der Grünen-Politikerin ist die Klima-Außenpolitik. Auch dort sind Erfolge rar gesät. Immerhin: Bei der Weltklimakonferenz einigten sich die Teilnehmer erstmals auf einen gemeinsamen Geldtopf zum Ausgleich von Klimaschäden in ärmeren Ländern – Baerbock hatte sich persönlich dafür eingesetzt.

Volker Wissing (FDP): Der Verhinderte

Volker Wissing hatte nicht damit gerechnet, auf so viele Probleme als Verkehrsminister zu stoßen: Die Infrastruktur im Land ist in einem desolaten Zustand, Fortschritt angesichts langer Planungsverfahren nur schwer zu erzielen.

Allein mit dem aus der Not geborenen Neun-Euro-Rabattticket konnte Wissing die Nahverkehrsbranche durchrütteln.

Verkehrsminister Volker Wissing

Höher noch waren die Erwartungen an den ersten deutschen Digitalminister. Viel hatte die Ampel im Koalitionsvertrag angekündigt, um die lahmende Digitalisierung voranzubringen. Doch auf der digitalpolitischen Habenseite stehen bisher vor allem Ankündigungen. Zwar konnte Wissing im August die Ministerien mit viel Nachdruck dazu bewegen, in der Digitalstrategie ihre Projekte zu skizzieren – doch umgesetzt wurde bisher nur wenig. Auch an der Strategie selbst gab es viel Kritik: zu wenige Visionen, zu wenig Weitblick.

Wissing größtes Manko: Trotz seines Titels als Digitalminister hat er digitalpolitisch kaum etwas in der Hand. Die großen Vorhaben liegen bei Bundesinnenministerin Nancy Faeser (Verwaltungsmodernisierung) oder Wirtschaftsminister Robert Habeck (Start-up-Förderung).

Klara Geywitz (SPD): Die Hilflose

Eigentlich wollte die Ampelkoalition den großen Aufbruch in der Bau-, Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik. 400.000 neue klimafreundliche Wohnungen sollten im Jahr gebaut werden, davon 100.000 öffentlich geförderte. Dafür wurde sogar wieder ein eigenes Bauministerium geschaffen. Die Chefin des Ressorts: die Sozialdemokratin Klara Geywitz.

Doch von 400.000 neuen Wohnungen ist Geywitz nicht nur weit entfernt. Schlimmer: Angesichts enorm steigender Energie-, Material- und Baupreise drohen rückläufige Fertigstellungszahlen. Die anziehenden Kreditzinsen lassen Finanzierungen platzen. Darüber hinaus drohen Haushalte durch steigende Heizkosten in schwere Bredouille zu geraten.

Bauministerin Klara Geywitz

Geywitz selbst versucht, die Ruhe zu bewahren. Verglichen mit anderen Häusern ist das neu gegründete Bauministerium nicht das lauteste, aber arbeitet pragmatisch Punkt für Punkt seiner umfangreichen To-do-Liste ab. In Geywitz haben die Mieter eine Fürsprecherin für den Heizkostenzuschuss I und II, für ein höheres Wohngeld, für die Beteiligung der Vermieter am CO2-Preis. Schuldig geblieben ist sie bislang aber die versprochene Klarheit über die Fördermöglichkeiten beim Neubau – zum Ärger der Branche.

Mehr: Das Fortschritts-Märchen – Die Bilanz von einem Jahr Ampel-Koalition



<< Den vollständigen Artikel: Analyse: Ein Jahr Ampel-Koalition – Das ist die Bilanz der wichtigsten Minister >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.

Article Categories:
Politik

Comments are closed.