Wien Die Ukraine gibt sich nach außen zuweilen fast unheimlich geschlossen – und doch ist die Politik nicht abgeschafft. Auch wenn der Abwehrkampf gegen die russische Aggression nationaler Konsens ist, sind Machtkämpfe und gesellschaftliche Probleme nicht verschwunden. Sie kommen im Krieg lediglich in neuer Form daher.
Der Streit zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski und Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko steht beispielhaft dafür. Vordergründig ging es darum, dass viele der Wärme- und Schutzräume für die Bevölkerung – vom Präsidentenbüro pompös „Orte der Unbezwingbarkeit“ getauft – nicht in Betrieb sind. Das Problem sorgt bei den durch russische Luftangriffe schwer geprüften Kiewern für erhebliche Unzufriedenheit.
Auch wenn die Planung der Räume dem Präsidentenbüro unterliegt und dieses laut Medienberichten dabei ziemlich unkoordiniert vorging, fand Selenski im machtbewussten Klitschko rasch einen Sündenbock. Der ehemalige Boxstar galt nicht nur als Vertrauter von Selenskis Rivalen und Vorgänger Petro Poroschenko, sondern lässt sich auch ungern in städtische Angelegenheiten hineinreden.
Unter dem herrschenden Kriegsrecht hätte die Armeeführung zwar die Kompetenz, ihn einem militärischen Verwalter zu unterstellen. Doch Klitschko akzeptiert dies nicht, und der Präsident sah bisher davon ab, den Konflikt eskalieren zu lassen. Dies hat viel mit Klitschkos Popularität zu tun, aber auch mit der Beobachtung durch das Ausland.
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Nicht zufällig wandte sich der Bürgermeister mit seinen Anliegen sofort an die „Bild“-Zeitung, zu der er enge Beziehungen pflegt. Selenski wiederum will sein Image als Verteidiger westlicher Werte nicht durch offene, politisch motivierte Attacken gegen die Opposition beschädigen.
Gleichzeitig präsentiert Moskau jede Dissonanz in Kiew sofort als Bruchlinie in der nationalen Einheitsfront. Um der feindlichen Propaganda keine Munition zu liefern, vermeiden die Ukrainer deshalb kontroverse Themen. Die innenpolitische Debattenkultur präsentiert sich weitgehend gelähmt.
Dies wirkt sich etwa auf das Parlament, die Werchowna Rada, aus. Es arbeitet aus Sicherheitsgründen seit Monaten auf Sparflamme, zeigt aber auch sonst kaum mehr Initiativen. Die Parlamentarier befassen sich primär damit, die Annäherung an die EU legislativ umzusetzen – ein Thema, das innenpolitisch unumstritten ist.
Die Opposition in der Ukraine ist zersplittert
Selenskis Partei nickt im Wesentlichen die Vorschläge der Exekutive ab und hat zudem ein Mobilisierungsproblem bei den eigenen Abgeordneten, da die Parlamentsarbeit wenig Priorität im Regierungsblock genießt. Unterstützung erhält die Präsidentenpartei paradoxerweise von den einst prorussischen Kräften. Die Opposition ist zu zersplittert, um gegensteuern zu können.
Dabei bietet der Krieg Möglichkeiten zur Profilierung – nicht nur für den Präsidenten. So verorten Politbeobachter die wahrscheinlichen Führungsfiguren der Nachkriegspolitik entweder in der Regierung, den Streitkräften oder Freiwilligenorganisationen. Sie alle verfügen über erhebliches gesellschaftliches Prestige und schweben oftmals über dem politischen Alltagsgeschäft.
Der Oberbefehlshaber Waleri Saluschni wird dabei ebenso als potenzieller zukünftiger Konkurrent für Selenski genannt wie der ehemalige Fernsehmoderator Serhi Pritula, der über einen nach ihm benannten Fonds umgerechnet mehr als 40,5 Millionen Euro an Spendengeldern für die Streitkräfte gesammelt hat. „Ich bin kein Politiker. Ich bin ein Freiwilliger“, betont er, obwohl er sich von einem bekannten Image-Fachmann beraten lässt und aufwendige PR betreibt.
Auch wenn die nächste Präsidentschaftswahl erst 2024 geplant ist, unternimmt Selenski offenbar Schritte, um sich in eine noch günstigere Position zu bringen. So hat das Präsidentenbüro nach Einschätzung der Onlinezeitung „Ukrainska Prawda“ zumindest teilweise die Kontrolle über das Medienimperium des umstrittenen Oligarchen Rinat Achmetow übernommen, der dieses im Sommer unter politischem Druck abgegeben hatte.
Kritische Medien halten sich zurück
Der nun daraus hervorgegangene Sender „Wir sind die Ukraine“ hatte in Rekordzeit eine Lizenz erhalten, was laut der Zeitung ohne Unterstützung von ganz oben unmöglich gewesen wäre. Der Sender ist nun Teil jener Kanäle, die gemeinsam die sogenannten Einheitsnachrichten produzieren. Jüngst stellte das Parlament dafür umgerechnet 50,7 Millionen Euro für das kommende Jahr zur Verfügung, eine große Summe auf dem kriegsgebeutelten ukrainischen Medienmarkt.
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Auch wenn kritische Medien weiterhin ihre Kontrollfunktion aufrechterhalten, fassen sie heikle Themen, gerade wenn es um Missbräuche im Militär oder Korruption bei Hilfslieferungen geht, nur noch sehr vorsichtig an – häufig eher aus Selbstzensur als auf direkten politischen Druck. Recherchen wie jene des „Kyiv Independent“ über die desaströsen Zustände bei der sogenannten Internationalen Legion bleiben die Ausnahme.
Starke unabhängige Medien werden aber immer wichtiger. Der Krieg schafft einen wachsenden Sektor von staatlichen Aktivitäten, der zwar aus nachvollziehbaren Gründen der Geheimhaltung unterliegt, deshalb aber auch anfällig für unsaubere Machenschaften ist – gerade in einem Land mit verbreiteter Korruption.
So unterstellte die Regierung vor einem Monat im Rahmen ihrer kriegsrechtlichen Kompetenzen fünf strategisch wichtige Großfirmen dem Verteidigungsministerium, darunter das Ölunternehmen Ukrnafta und den Lastwagenhersteller Awtokras.
Das Wirtschaftsmagazin „Forbes“ schätzt die vom Staat übernommenen Vermögenswerte auf fast eine Milliarde Euro. Die Modalitäten bleiben unklar. Offiziell sollen die betroffenen Oligarchen nach dem Ende des Kriegs alles zurückerhalten. Solange dieser andauert, werden sie entmachtet – ein zusätzliches Beispiel dafür, dass die Exekutive in einer Grauzone ihre Macht weiter ausbaut.
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