Berlin Tarifbeschäftigte müssen in diesem Jahr einen Kaufkraftverlust hinnehmen, der in der Bundesrepublik bisher beispiellos ist. Zwar stiegen die Tarifverdienste gegenüber dem Vorjahr um durchschnittlich 2,7 Prozent. Durch die stark gestiegenen Preise sinken die Reallöhne aber voraussichtlich um 4,7 Prozent.
Das geht aus der Tarifbilanz des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) hervor, das zur gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört. Der Leiter des WSI-Tarifarchivs, Thorsten Schulten, sagt: „Die enorm gestiegene Inflation stellt die Tarifpolitik vor vollkommen neue Herausforderungen, auf die sie immer nur mit einer gewissen Zeitverzögerung reagieren kann.“
Die Düsseldorfer Forscher haben in ihre vorläufige Tarifbilanz Abschlüsse für rund 7,4 Millionen Beschäftigte einbezogen, die von Januar bis Ende November vereinbart worden sind. Berücksichtigt wurden aber auch Tarifsteigerungen aus früher geschlossenen Vereinbarungen, die erst im laufenden Jahr wirksam wurden. Davon profitierten weitere zwölf Millionen Beschäftigte. Bei der Preissteigerung hat das WSI die Verbraucherpreisentwicklung für die ersten elf Monate dieses Jahres zugrunde gelegt.
Zwar gab es im laufenden Jahr hohe Tarifabschlüsse in großen Industriebranchen wie Chemie oder Metall und Elektro. In beiden Fällen werden die vereinbarten Tariferhöhungen und Inflationsprämien aber erst im kommenden Jahr fällig, sodass sie noch nicht in die Bilanz einfließen. Diese ist vielmehr noch geprägt durch zahlreiche Corona-Krisenabschlüsse, in denen die Gewerkschaften Lohnzurückhaltung geübt hatten.
Top-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Im kommenden Jahr dürfte es aber mit der Tariflohnentwicklung deutlich nach oben gehen, erwartet Schulten. So steigen die Entgelte in der Metall- und Elektroindustrie ab Juni um 5,2 Prozent. In der chemisch-pharmazeutischen Industrie werden die Löhne und Gehälter bereits im Januar um 3,25 Prozent angehoben. In beiden Branchen werden zudem erste Tranchen der Inflationsprämie von insgesamt 3000 Euro gezahlt.
Was auf eine Kehrtwende hindeutet
Auf eine steigende Lohndynamik deuten aber auch die Forderungen für Tarifrunden hin, die im nächsten Jahr anstehen. So verlangen Verdi und Beamtenbund für die rund 2,5 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen 10,5 Prozent mehr Geld, mindestens aber 500 Euro. Durch den Mindestbetrag beläuft sich die Forderung im Mittel sogar auf knapp 15 Prozent. Die Verhandlungen beginnen am 24. Januar.
Für die Beschäftigten der Deutschen Post fordert Verdi ebenfalls eine Entgelterhöhung um 15 Prozent. Für die anstehenden Verhandlungen für die Beschäftigten der Lebensmittelindustrie, des Gastgewerbes, der Süßwarenindustrie, der Brauereien und des Lebensmittelhandwerks hat der Hauptvorstand der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) eine Forderung von „zehn Prozent plus X“ empfohlen.
Auch im zu Ende gehenden Jahr konnte aber trotz der stark gestiegenen Preise in einigen Branchen die Kaufkraft zumindest einiger Beschäftigter gesichert werden. Dies gelte vor allem in klassischen Niedriglohnbranchen wie dem Bäckerhandwerk, dem Gastgewerbe, der Gebäudereinigung oder dem Bewachungsgewerbe, wo im Vorgriff auf die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro teils kräftige Tarifsteigerungen für untere Lohngruppen vereinbart wurden, schreibt das WSI.
>> Lesen Sie hier: Beamtenbund-Chef zur 15-Prozent-Tarifforderung: „Die Lebenshaltungskosten sind dramatisch gestiegen“
Der Reallohnverlust, den die Tarifbeschäftigten insgesamt im laufenden Jahr hinnehmen müssen, ist bereits der zweite in Folge. Die durchschnittliche Tariferhöhung von 2,7 Prozent liegt zwar wieder deutlich höher als in den Coronajahren, aber immer noch unter den Werten der Boomjahre 2018 und 2019, als die Tarifverdienste im Schnitt um drei beziehungsweise 2,9 Prozent stiegen.
Mehr: Gehaltserhöhung trotz Krise? So holen Sie 2023 mehr raus
<< Den vollständigen Artikel: Arbeitsmarkt: Kaufkraft der Tarifbeschäftigten sinkt um 4,7 Prozent – und damit so stark wie nie >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.