Brüssel Angesichts der Washingtonreise des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski hat der Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, die Europäer zu einem „Winter der Solidarität“ mit der Ukraine aufgerufen. Die EU müsse sich jetzt auf die nächste Phase des russischen Angriffskriegs vorbereiten und die Ukraine auch mit Panzerlieferungen unterstützen, sagte er im Interview mit dem Handelsblatt.
„Leider sind wir in der militärischen Logik, und die verlangt, die Ukraine entsprechend aufzurüsten“, sagte der CSU-Politiker. Der russische Präsident Wladimir Putin werde im Frühjahr den militärischen Druck verstärken: „Er wird eine neue Angriffswelle starten.“
Selenskis Besuch in Washington wertete Weber als Weckruf für Europa. „Sicher hätte ich mir gewünscht, dass seine erste Auslandsreise seit Kriegsbeginn in die EU führt“, sagte er. Aber er habe „volles Verständnis“ dafür, dass Selenski Washington gewählt habe, denn die militärische Logik stehe jetzt im Mittelpunkt. „Für uns Europäer ist dieser Besuch ein erneuter Weckruf, endlich militärisch auf Augenhöhe zu kommen.“
Zum Korruptionsskandal im Europaparlament sagte Weber, dass es sich um das „Versagen von Einzelnen“ handele. Dennoch fordert er, die Transparenzvorschriften auf staatliche Akteure auszuweiten und auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) stärker zu kontrollieren.
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Herr Weber, der Besuch von Präsident Wolodimir Selenski in Washington zeigt: Die Europäer spielen aus Sicht der Ukraine nur eine Nebenrolle. Hatte sich die EU nicht vorgenommen, eine geopolitische Macht zu werden?
Wir stehen am Anfang dieser Ambitionen. Die EU hat neun Sanktionspakete mit den USA auf den Weg gebracht. Das zeigt, dass wir geschlossen sind. Dennoch: Die Anfangsphase, gerade das Zögern der Bundesregierung, hat viele Zweifel erzeugt. Die Amerikaner sind vorangegangen. Als Christdemokraten sind wir sehr dankbar, dass es diese Orientierungsmacht Amerika gibt und Joe Biden im Weißen Haus sitzt.
Hätten Sie sich nicht gewünscht, dass Selenski zuerst nach Brüssel reist?
Sicher hätte ich mir gewünscht, dass seine erste Auslandsreise in die EU führt. Aber ich habe volles Verständnis dafür, dass er Washington gewählt hat. Die militärische Logik steht jetzt im Mittelpunkt, und deswegen ist Washington der zentrale Ort für ihn. Für uns Europäer ist dieser Besuch ein erneuter Weckruf, endlich militärisch ernsthaft auf die Beine zu kommen. Wir müssen uns jetzt auf die nächste Phase des Kriegs vorbereiten. Putin wird spätestens im Frühjahr den militärischen Druck verstärken, er wird eine neue Angriffswelle starten.
Was muss Europa tun?
Erstens müssen wir der Ukraine finanziell weiter unter die Arme greifen. Die 18 Milliarden Euro, die die EU vergangene Woche freigegeben hat, sind ein wichtiges Signal. Zweitens brauchen wir einen Winter der Solidarität, wir müssen die Ukraine bei der Reparatur der zerbombten Energieinfrastruktur und bei der Aufnahme von Flüchtlingen unterstützen. Und drittens, so leid es mir tut: Waffen, Waffen, Waffen. Wer diesen Krieg beenden will, muss die Ukraine militärisch so stärken, dass Russland von diesem Feldzug ablässt.
Auch mit der Lieferung von Leopard- und Marder-Panzern?
Ja. Der Winter dient Putin zur Mobilisierung. Sein Besuch beim belarussischen Machthaber Lukaschenko deutet an, dass es zu einer weiteren Front kommen könnte. Wir müssen der Realität ins Auge schauen. Die Realität heißt, Putin will keine diplomatische Lösung. Leider sind wir in der militärischen Logik, und die verlangt, die Ukraine entsprechend aufzurüsten.
Während in Washington Weltpolitik gemacht wird, ist Brüssel mit einer Korruptionsaffäre beschäftigt. Beschädigen Enthüllungen über mutmaßliche Schmiergeldzahlungen von Katar und Marokko an die frühere Vizepräsidentin des Europaparlaments, Eva Kaili, die gesamte EU?
Ich hoffe nicht. Es ist das Versagen von Einzelnen. Dass Glaubwürdigkeit beschädigt wurde, ist schlimm. Aber das Gute ist, dass es aufgeklärt wird. Der Rechtsstaat funktioniert.
In einer Werbeanzeige hat die EVP behauptet, dass der Skandal einen Namen habe, nämlich den der Sozialdemokraten. Ist die Lage nicht viel zu ernst für solche Parteitaktik?
Bis heute sind nur Sozialdemokraten betroffen. Deshalb tragen sie eine besondere Verantwortung. Trotzdem sind noch immer nicht alle vom Skandal betroffenen Kolleginnen und Kollegen von der sozialdemokratischen Fraktion sanktioniert. Und wer es ablehnt, dass wir jetzt, da eine NGO im Zentrum der Affäre steht, die Regeln für die NGO-Szene verschärfen, der gibt nicht die richtigen Antworten.
Können Sie sicher sein, dass in Ihren Reihen keine korrupten Abgeordneten sitzen?
Nein, das kann niemand. Aber ich habe volles Vertrauen in meine Kolleginnen und Kollegen. Wenn wir Vorfälle haben, werden wir mit aller Entschiedenheit dagegen vorgehen.
Ganz sauber scheint Ihre Partei auch nicht zu sein. Gerade hat die Europäische Staatsanwaltschaft die Aufhebung der Immunität Ihrer Kollegin Maria Spyraki beantragt.
Das ist richtig. Sie selbst hat darum gebeten. Es ist ein Routinefall, bei dem es um die Bezahlung von Mitarbeitern geht. Dieser Vorgang wird jetzt geklärt, aber er hat überhaupt nichts mit Katar oder Marokko oder den Korruptionsermittlungen zu tun.
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Ihre Partei, die CSU, ist ja durchaus auch schon mit Affären auffällig geworden. Was kann das Europaparlament daraus lernen?
Das Europäische Parlament setzt Maßstäbe in Sachen Transparenz und Offenheit, den Vergleich mit nationalen Parlamenten müssen wir nicht scheuen. Im Fall Kaili wurden alle Regeln gebrochen, die wir im Parlament schon haben.
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Also kann alles bleiben, wie es ist?
Auf keinen Fall. Wir müssen uns dem Handeln staatlicher Akteure zuwenden. Die Transparenzvorschriften gelten bisher vor allem für die Privatwirtschaft, aber es gibt kaum Regeln für staatliches Handeln. Und wir müssen die NGO-Szene ausleuchten. Hinter vermeintlich wohlmeinenden Organisationen können sich Interessen autoritärer Länder verbergen, wie die Affäre zeigt.
Das kommende Jahr wird im Zeichen der Industriepolitik stehen: Europa muss auf das US-Subventionsprogramm IRA reagieren. Die EU-Kommission schlägt vor, einen Investitionsfonds und das Beihilferecht zu lockern. Ist das der richtige Ansatz?
Die Überarbeitung des Beihilferechts ist überfällig. Wir müssen globale Champions ermöglichen, aber auch auf den Subventionswettbewerb der Amerikaner reagieren. Es ist gut, dass die USA bei der Ökologisierung jetzt vorangehen. Aber wir müssen mit ihnen über Sonderregelungen in einzelnen Sektoren reden. Im Autosektor muss Amerika uns entgegenkommen und klarstellen, dass in Europa produzierte Autos den gleichen Zugang zum US-Markt bekommen wie amerikanische Fahrzeuge.
Wenn wir die Beihilferegeln lockern, stellt sich natürlich die Frage, wie wir gleichzeitig noch eine Chancengleichheit auf dem Binnenmarkt gewähren, weil Länder wie Deutschland größere Finanzreserven haben als Italien. Braucht es da nicht einen neuen EU-Fonds?
Es braucht europäische Investitionen, daran hat es in den letzten Jahren gehapert. Aber ich warne vor einem Schuldenwettlauf. Wir wissen bis heute nicht, wie die Schulden für den Corona-Wiederaufbaufonds refinanziert werden sollen. Die Aufgaben sind gewaltig, aber auch die Fonds, die wir schon haben, sind gewaltig. Wir sollten deshalb neu diskutieren, wo das Geld am dringendsten gebraucht wird. Wir brauchen eine Überprüfung unserer Finanzen und nicht zunächst den Ruf nach neuem Geld.
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Wofür sollte Europa denn weniger Geld ausgeben?
Manche Mitgliedstaaten tun sich schwer damit, genug sinnvolle Projekte für das Geld aus dem Coronafonds zu finden. Da gibt es Aufnahmeprobleme. Und wir sollten auch in der Debatte um den IRA nicht beim Subventionsdenken stehen bleiben. Subventionen für den grünen Umbau sind notwendig, aber wir dürfen nicht glauben, dass sie die Lösung unserer ökonomischen Probleme bedeuten. 2023 muss das Jahr der Wettbewerbsfähigkeit werden.
Was stellen Sie sich darunter vor?
Wir brauchen einen kompletten Systemcheck. Wir müssen jetzt beispielsweise den Binnenmarkt im Telekombereich stärken und Genehmigungsverfahren beschleunigen. Und wir sollten endlich den Mercosur-Handelsvertrag mit Südamerika unterzeichnen, genauso wie es einen Anlauf für ein neues Abkommen mit den USA braucht.
Herr Weber, vielen Dank für das Interview.
<< Den vollständigen Artikel: Ukraine-Krieg: EVP-Chef Weber nennt Selenskis USA-Besuch „Weckruf“ – und fordert Panzer für die Ukraine >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.