Genf Das Jahr 2022 war kein gutes Jahr für den Welthandel. Die USA und China starteten einen neuen Handelsstreit um Chips. Und selbst zwischen den Bündnispartnern USA und Europa krachte es. Die Europäer betrachten das US-Inflationsausgleichsprogramm als grün gefärbten Protektionismus, mit dem die USA mittels gewaltigen Subventionen vor allem darauf abzielt, europäische Industriefirmen in die USA zu locken.
Angesichts der zunehmenden Handelskonflikte wäre eine starke Welthandelsorganisation (WTO) daher nie so wichtig wie heute. Die WTO soll eine Art Schiedsrichter der Weltwirtschaft sein: für freien und fairen Handel sorgen, Protektionismus eindämmen und so den Wohlstand auf der Welt mehren. Doch schon seit vielen Jahren steckt die WTO in der Dauerkrise einer andauernden Selbstblockade. Politiker und Experten kanzelten die WTO schon als Auslaufmodell ab.
Doch immerhin etwas Hoffnung gibt es nach diesem Jahr. Denn auf ihrer 12. Ministerkonferenz im Juni lieferte die Organisation überraschend: Die oftmals zerstrittenen Mitglieder einigten sich auf die Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte an Coronaimpfstoffen, das Streichen schädlicher Fischereisubventionen und versprachen einen Reformprozess für die schwerfällige Organisation.
In dem sogenannten „Genfer Paket“, das die Mitglieder in Tag- und Nachtsitzungen schnürten, finden sich weitere Beschlüsse, etwa zum Kampf gegen den Hunger. „Seit Langem hat die WTO nicht mehr so viele multilaterale Ergebnisse erzielt“, betonte Generaldirektorin Ngozi Okonjo-Iweala.
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Auch der deutsche Delegationschef, Wirtschaftsstaatssekretär Udo Philipp, war zufrieden: „Von dieser Ministerkonferenz geht ein erstes Zeichen der Hoffnung aus.“ Der indische Wirtschaftsminister Shri Piyush Goyal, der seine Kontrahenten mit immer neuen Forderungen genervt hatte, sah gar einen Grund „zum Feiern“. Zu Recht?
Zweifel am Reformwillen
Optimisten hoffen, dass sich die WTO nun endlich reformiert und die Organisation ihrem Gründungsauftrag endlich wieder voll nachkommen wird: Liberalisierung des Warenaustausches, Verabschiedung neuer multilateraler Handelsregeln, Überwachung der Verträge und Schlichtung von Konflikten unter den Mitgliedern.
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Doch nachdem die erste Euphorie über das „Genfer Paket“ verflogen ist, melden sich nun nüchtern analysierende Fachleute. „Das Ergebnis der WTO-Ministerkonferenz ist besser als nichts“, sagt der Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft, Holger Görg, dem Handelsblatt. „Im Moment steht aber alles noch auf dem Papier.“ Die WTO-Mitglieder stünden vor der Herausforderung, die Beschlüsse zügig umzusetzen.
Eine rasche Implementierung könnte laut dem Kieler Ökonom aber an der mangelnden konstruktiven Führung innerhalb der WTO scheitern. Die USA hätten sich unter Präsident Donald Trump von ihrer Führungsrolle verabschiedet. „Unter dem aktuellen Präsidenten Joe Biden sind die Amerikaner nicht wieder ihrer Rolle als Vormacht gerecht geworden“, sagt Görg. „Gleichzeitig überlassen die USA aber keinem anderen Mitglied eine bestimmende Rolle.“
USA blockieren Handelsgericht
Außer den USA verfügt nur noch die EU über die nötige Stärke, in der WTO die Richtung vorzugeben. „Die EU sind der Einzige der drei großen Player im Handel, neben den USA und China, die sich kontinuierlich und konkret für eine Reform der Welthandelsorganisation einsetzt“, sagt Claudia Schmucker, Programmleiterin bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. „Mit ihrem Reformpapier von 2018 und erneut 2021 hat sie konkrete Reformantworten auf die Kritik an der WTO gegeben.“
Unter dem aktuellen Präsidenten Joe Biden sind die Amerikaner nicht wieder ihrer Rolle als Vormacht gerecht geworden. Holger Görg, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft
Die Eigenwilligkeit der USA lässt sich eindrücklich bei dem gelähmten WTO-Streitschlichtungssystem beobachten, das einst das „Herzstück“ der WTO war. Mehr als 20 Jahre befasste sich das zweistufige WTO-Handelsgericht mit Hunderten großen und kleinen Fällen: vom Bananendisput über die Rivalität zwischen den Flugzeugherstellern Boeing und Airbus bis hin zu Tiefkühlkost.
Im Dezember 2019 musste die Berufungsinstanz des WTO-Handelsgerichts ihre Arbeit jedoch einstellen – und die Blockade dauert bis heute an. Denn die USA stemmen sich weiter gegen neue Richterernennungen.
Eingeleitet wurde diese Konfrontationspolitik vom früheren US-Präsidenten Barack Obama, sein Nachfolger Trump verschärfte sie und der jetzige Amtsinhaber Biden setzt sie fort.
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Washington wirft der Berufungsinstanz vor, systematisch ihre Befugnisse zu übertreten und neues Recht schaffen zu wollen. Auf der Ministerkonferenz kamen die Mitglieder überein, das Streitschlichtungssystem zu reformieren und wieder flott zu bekommen. Bis 2024 soll das geschehen.
Die USA haben den Streitschlichtungsmechanismus blockiert, jedoch keine konkreten Reformangebote gemacht. Claudia Schmucker, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik
„Die USA haben den Streitschlichtungsmechanismus blockiert, jedoch keine konkreten Reformangebote gemacht“, sagt Expertin Schmucker. Wenn bis 2024 eine Reform stehen soll, „erfordert dies ein deutlich gesteigertes Engagement der USA“, so Schmucker.
Problem Einstimmigkeitsprinzip
Die Blockade der Berufungsinstanz beleuchtet ein weiteres Problem der 1995 gegründeten WTO: Die Mitglieder entscheiden alles im Konsens. Jedes Mitglied kann praktisch ein Veto einlegen. Das gilt für die Großen drei – die USA, die EU und China – genauso wie für kleine Länder, etwa die Dominikanische Republik.
Das Konsensprinzip trug auch zum Scheitern der Doha-Welthandelsrunde bei. Die WTO-Mitglieder beschlossen 2001 in Doha die Aufnahme von Verhandlungen zur Öffnung der Märkte und Einbindung armer Länder.
Doch die Blockademacht jedes Mitgliedes und die überbordende Agenda ließen die Doha-Gespräche versanden. „Zwar werden die Großen in der WTO ihr Veto nicht aufgeben wollen“, urteilt Fachmann Görg. „Es muss aber darüber nachgedacht werden, ob man immer auf Konsens bestehen sollte.“
Als Beispiel nennt Görg die Einigung von 67 WTO-Mitgliedern im Vorjahr auf Maßnahmen, die den Dienstleistungshandel vereinfachen: „Eine WTO der zwei Geschwindigkeiten könnte ein Modell der Zukunft sein“, schlägt der Präsident des IfW Kiel vor.
Bei dem Deal über Impfstoffe in diesem Jahr hätte ein Modell der zwei Geschwindigkeiten oder ein plurilaterales Abkommen nur für eine bestimmte Gruppe von Mitgliedern aber nicht funktioniert. „Südafrika und vor allem Indien zeigen sich immer wieder als der Sand im Getriebe der WTO, beide akzeptieren grundsätzlich keine plurilateralen Abkommen“, sagt WTO-Expertin Schmucker.
Unklarheit über Impfstoffpatente
Indien und Südafrika forderten erstmals 2020 die temporäre Freigabe der geistigen Eigentumsrechte an Impfstoffen, Heilmitteln und Diagnostika im Kampf gegen Corona. Der Pakt für alle WTO-Mitglieder soll eine Massenproduktion in armen Ländern ankurbeln.
Auf der Ministerkonferenz erzielten die WTO-Mitglieder einen Kompromiss: Unternehmen aus bestimmten Entwicklungsländern sollen bis zu fünf Jahre die Patente für Impfstoffe nutzen dürfen. Gleichzeitig einigten sich die WTO-Mitglieder auf weitere Verhandlungen bis Ende dieses Jahres. Sie wollen darüber entscheiden, ob der „Waiver“ auf die Produktion von Corona-Diagnostika und -Therapeutika ausgeweitet werden soll. Kurz vor Weihnachten verschob sich die Entscheidung zur Patentausnahme für Covid-Medikamente vorerst.
Industrie und Fachleute warnen die WTO jedoch vor diesem zweiten Schritt: „Er würde Unternehmen wie Gilead, Merck und Pfizer einfach dazu zwingen, ihr geistiges Eigentum aufzugeben, ohne dafür Lizenzgebühren zu erhalten“, sagt der US-amerikanische Gesundheitsspezialist Kenneth Thorpe. „Das wäre ein gefährlicher Präzedenzfall, der langfristig katastrophale Folgen für künftige Innovationen haben könnte.“
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