Die Aufstellung enthält offenbar nicht alle Raketen, die auf ukrainisches Territorium fielen. So sprach ein Berater Selenskis von 120 Flugkörpern. Ein kremlnaher Publizist warf Kiew vor durch die niedrige Zahl die eigene Abschussquote schönzurechnen.
In Kiew wurden drei Personen verletzt als Teile von abgeschossenen Projektilen oder Abfangraketen auf Wohnhäuser fielen. Laut ukrainischen Angaben erreichte aber keiner der 16 gegen die Hauptstadt gerichteten Marschflugkörper sein Ziel.
Dennoch waren 40 Prozent der Haushalte in Kiew vorübergehend ohne Strom. Laut Stadtverwaltung war dies eine Vorsichtsmaßnahme und keine Folge des Beschusses.
Ziel war die ukrainische Energieversorgung
Härter getroffen wurde die Energieversorgung im Westen des Landes und in anderen Großstädten, wo es teilweise zu Notabschaltungen der Netze kam: So saßen 9 von 10 Einwohnern von Lwiw zunächst im Dunkeln, in Charkiw stellte die Metro den Betrieb ein.
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Die Region Odessa meldete den Abschuss von 21 Raketen, aber auch Probleme mit der Wasser- und Stromversorgung. Diese Infrastruktur war Anfang Dezember bei Angriff schwer beschädigt worden und offenbar trafen die Russen erneut ein für die Versorgung zentrales Unterwerk. Landesweit zeigten die Angriffe aber weniger gravierende Folgen als frühere.
Einiges deutet darauf hin, dass die Ukrainer besser vorbereitet waren. So warnten die Behörden bereits in den frühen Morgenstunden vor detaillierten Angriffsplänen, etwa auf Raketenschiffen im Schwarzen Meer. Sie veröffentlichten zudem Zeitspannen, in denen die Raketen voraussichtlich in einzelnen Städten einschlagen würden. Die bessere Informationspolitik liegt möglicherweise an verbesserten Beobachtungsmöglichkeiten durch neu gelieferte westliche Luftverteidigungssysteme.
Es gibt auch Hinweise, dass die Ukrainer gleichzeitig mit den russischen Angriffen zu Gegenschlägen ausholten. So meldeten russische Journalisten die Zerstörung eines Luftverteidigungssystems des Typs S-300 in der grenznahen Region Brjansk durch Drohnen. Eine offizielle Bestätigung dafür liegt nicht vor.
Es gibt zunehmend Beweise, dass Russland kürzlich hergestellte Raketen verwendet sowie viel ältere Raketen mit Schein-Sprengköpfen, um die Luftverteidigung zu Beschuss zu animieren. Michael Kofman, US-amerikanischer Militäranalyst
Über dem russischen Militärflugplatz Engels-2, mehrere Hundert Kilometer von der Ukraine entfernt, war zudem die Luftverteidigung aktiv, und herunterfallende Trümmer beschädigten Häuser. Es blieb aber unklar, ob die Ukrainer die Basis zum dritten Mal innerhalb eines Monats mit unbemannten Flugobjekten angriffen, oder ob ein Versehen den Beschuss auslöste.
Eine Rakete stürzte auf belarussisches Gebiet ohne Schäden zu verursachen. Belarus Regierung behauptet, diese sei aus der Ukraine. Bislang lässt sich das nicht beweisen.
Raketen verzweifelt gesucht
Kremlnahe Militärblogger behaupten, Russland habe seine Taktik ebenfalls angepasst: So seien bei den letzten beiden Angriffswellen vermehrt Systeme der Ukrainer zur Luftverteidigung ins Visier genommen worden. Sie publizierten Videos von Explosionen, die mindestens einen solchen Fall zu dokumentieren scheinen. Eine solche Strategie ist plausibel, es stellt sich aber die Frage, weshalb sie erst jetzt gewählt wird.
Die Verfügbarkeit von Raketen stellt jedoch beide Seiten vor Probleme. Die Hoffnung, den Russen könnten die Marschflugkörper ausgehen, beurteilen westliche Experten, als überoptimistisch. Dennoch deutet laut dem US-amerikanischen Militäranalysten Michael Kofman einiges darauf hin, dass die Bestände stark abgenommen haben.
„Es gibt zunehmend Beweise, dass Russland kürzlich hergestellte Raketen verwendet sowie viel ältere Raketen mit Schein-Sprengköpfen, um die Luftverteidigung zu Beschuss zu animieren“, sagte Kofman. Ukrainische Quellen meldeten, dass beim jüngsten Angriff mindestens eine Rakete aus 2022 stammt.
Doch auch für Kiew ist der Raketen-Nachschub ein zunehmendes Problem. Die Ukrainer hängen dabei vom Westen ab, der nur begrenzt liefern kann und will. Dazu kommt das Problem, dass der Abschuss der iranischen Kamikaze-Drohnen durch konventionelle Abwehrbatterien schwierig und extrem ineffizient ist. So kostet eine einzige Rakete für das deutsche Iris-T-System eine halbe Million Euro – mehr als das Zwanzigfache einer iranischen Kamikaze-Drohne.
Um dieses militärische und finanzielle Dilemma zu entschärfen, differenzieren die Ukrainer ihre Verteidigung. Am Donnerstag erschienen Videos im Netz, die den Abschuss russischer Raketen durch mobile Truppen mit schultergestützten „Stingern“ zeigten. Auch Geländewagen mit montierten Maschinengewehren waren zu sehen, die iranische Drohnen ins Visier nahmen.
Ukraine arbeitet an automatischen Drohnen
Ein Ersatz für eine moderne Luftverteidigung sind diese improvisierten Mittel zwar nicht, doch die Russland technisch unterlegenen Ukrainer schlagen sich auch in diesem schwierigen Feld besser als erwartet. An Ambitionen für eigene Systeme mangelt es jedenfalls nicht: So erklärte der Minister für Digitale Transformation, Michailo Fedorow, in einem Interview, man arbeite an Drohnen, welche die iranischen Drohnen in der Luft bekämpfen könnten.
„Schon im Februar oder März wird sich die Situation bezüglich Drohnen dramatisch ändern“, sagte Fedorow. Zwar ist Skepsis gegenüber solchen Äußerungen angesagt. Sollte er aber recht behalten, würde der Alltag von Millionen Ukrainern deutlich leichter – und Russlands schärfste Waffe stumpf.
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