Berlin Wind- und Solarkraft sollen Atom- und Kohlekraftwerke in Deutschland ablösen. Kraftwerksleistung, die jederzeit verlässlich verfügbar ist, wird damit knapp. Doch die Energiekrise hat den Zeitplan für die nötige Strommarktreform in Verzug gebracht. Das Bundeswirtschaftsministerium rückt das Thema jetzt mit Verspätung auf seiner Prioritätenliste nach oben.
Kraftwerkskapazitäten bereitzuhalten wird derzeit aber nicht honoriert. Der Bau und Betrieb eines neuen Kraftwerks, mit dem an nur wenigen Stunden im Jahr Geld verdient werden kann, lohnt sich daher nicht. Das soll sich ändern.
Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP heißt es, man werde eine Plattform „Klimaneutrales Stromsystem“ einsetzen, „die 2022 konkrete Vorschläge macht und Stakeholder aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft einbezieht“. Doch dazu ist es angesichts der großen energiepolitischen Herausforderungen, die sich aus dem Ukrainekrieg ergeben haben, nicht gekommen.
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Nun sagt das Bundeswirtschaftsministerium zu, das Thema voranzutreiben. Die Plattform solle „noch im ersten Quartal starten“, teilte das Wirtschaftsministerium mit. Ziel sei es, das Strommarktdesign für ein System mit überwiegend erneuerbaren Energien mit Akteuren aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zu diskutieren.
Details wie Sitzungsformate und Teilnehmer stehen allerdings nach Angaben des Ministeriums noch nicht fest. Einen exakten Starttermin gibt es ebenfalls noch nicht.
Wie wichtig jederzeit verfügbare Kraftwerksleistung ist, wurde zuletzt erst wieder kurz vor Weihnachten deutlich. In den Tagen vom 9. bis 13. Dezember lieferten Windräder und Photovoltaikanlagen den Stromerzeugungsdaten der Bundesnetzagentur zufolge keinen nennenswerten Beitrag zur Stromversorgung. Die Stromnachfrage musste überwiegend aus konventionellen Kraftwerken gedeckt werden.
Energiebranche mahnt zeitnahe Entscheidungen an
Selbst wenn sich der Anteil der Erneuerbaren in den kommenden Jahren stark erhöht, wird es immer wieder Tage geben, an denen kaum Wind weht und die Sonne nicht scheint. Da die direkte Speicherung von Strom zur Deckung der Stromnachfrage über längere Zeiträume und in großen Mengen auf absehbare Zeit nur sehr begrenzt möglich sein wird, müssen Alternativen hinzukommen.
Neben den mit Erdgas betriebenen Kraftwerken bieten sich Flexibilitätsoptionen an: So können etwa Industriebetriebe ihre Nachfrage nach Strom anpassen, um den Back-up-Bedarf zu reduzieren.
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Die Energiebranche fordert zeitnahe Entscheidungen der Politik. Kerstin Andreae, Hauptgeschäftsführerin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW), mahnt, noch in diesem Jahr müssten umsetzbare Ergebnisse für ein neues Strommarktdesign vorliegen. Investoren müssten eine verlässliche Basis für ihre Investitionsentscheidungen bekommen. „Das bedeutet zuallererst die Stärkung von Anreizen durch einen klugen Investitionsrahmen“, sagte sie.
2031 ist das entscheidende Jahr
Auch die Unternehmen der Gasbranche wollen rasch Klarheit. Das heutige Marktdesign sei zwar „grundsätzlich leistungsfähig, kann aber den Umbau hin zu Klimaneutralität mit Sonne und Wind nicht ausreichend anreizen“, sagte Thimm Kehler, Vorstand des Branchenverbandes „Zukunft Gas“.
„In Anbetracht der nahenden Versorgungslücke im Jahr 2031 ist es wichtig, dass dieses Jahr klare politische Weichenstellungen erreicht werden“, sagte er. 2031 ist bedeutsam, weil bis 2030 ein großer Teil der Kohlekraftwerke abgeschaltet wird. Im vergangenen Jahr hatten sich der Bund, die NRW-Landesregierung und der Energiekonzern RWE darauf verständigt, die Braunkohlekraftwerke des Rheinischen Reviers 2030 vom Netz zu nehmen.
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Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte kürzlich, ihm schwebe eine ähnliche Lösung für die Braunkohlekraftwerke in Ostdeutschland vor. Entscheidend wird also sein, bis 2030 ausreichend Back-up-Kapazitäten zur Verfügung zu haben. „Die Projektrealisierungszeiten im Kraftwerksbau betragen bis zu sieben Jahre. Die Zeit bis 2030 ist auch mit Blick auf Lieferketten und Fachkräfte sehr knapp“, sagte BDEW-Hauptgeschäftsführerin Andreae.
Kehler von „Zukunft Gas“ sagte, erforderlich seien „eine Rechtsgrundlage und eine zentrale Instanz, die die auszuschreibenden Kapazitätsmengen festlegt“. Die Beschaffung dieser Kapazitäten erfolge dann durch Auktionen, bei denen sich der Preis bilde. „Wichtig sind dabei beispielsweise auch CO2-Faktoren, die im Ausschreibungsverfahren als Auswahlkriterien einfließen. So kann die Nutzung klimaneutraler und CO2-armer Kapazitäten angereizt und CO2-intensiver Kapazitäten ausgeschlossen werden“, sagte er.
Ziel müsse ein technologieoffener Kapazitätsmechanismus sein, in dem unterschiedliche Lösungen wie wasserstoffbasierte Gaskraftwerke, Batteriespeicher oder industrielle Nutzer bestmöglich zum Einsatz kommen könnten.
David Bothe vom Beratungsunternehmen Frontier Economics warnte, ein bis ins Detail durchgeplantes System sei falsch. „Es wird eine Regelung geben müssen, daran besteht kein Zweifel. Wichtig ist aber, dass dabei Marktmechanismen eine Wirkung entfalten können“, sagte Bothe.
Frontier Economics beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Fragen des Strommarktdesigns. Es habe in den vergangenen Jahren immer wieder massive Eingriffe der Politik in den Strommarkt gegeben, etwa weil Kohle oder Atomkraft aus dem System gedrängt werden sollten. „Nach all diesen Eingriffen sehen wir im Rest vom Markt, der noch geblieben ist, deutlich zu wenig Investitionen in gesicherte Leistung, die zwingend erforderlich ist. Diese gesicherte Leistung nun mit einem bis ins Detail staatlich geplanten System herbeizuregulieren führt in die Irre“, sagte Bothe. Der „Charme der Marktidee wäre dann endgültig dahin“, warnte er.
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