Istanbul „Mörder“, „Diktator“, „Terrorist“ – mit solchen Worten bedachte der türkische Staatschef Erdogan den syrischen Machthaber Assad seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs immer wieder. Plötzlich jedoch ist davon keine Rede mehr, denn die Zeichen stehen auf Annäherung: Diplomaten in Ankara und Damaskus bereiten ein Treffen der beiden Spitzenpolitiker vor.
Das geschieht nicht ohne Zufall vor den anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei – und könnte auch die Beziehungen Ankaras zu europäischen Staaten und der EU beeinflussen.
Seit 2011 herrscht Krieg in Syrien. Hunderttausende Menschen kamen ums Leben, seit die Zentralregierung in Damaskus Aufstände im März 2011 niederzuschlagen begann. Immer wieder setzte der Staat Giftgas gegen seine eigenen Bürgerinnen und Bürger ein, eroberten Terrorgruppen wie der Islamische Staat (IS) oder die PKK Teile des Landes. Anfang der Woche töteten IS-Kämpfer in nordsyrischen Städten Dutzende Menschen. Mindestens sechs Millionen Syrer flüchteten ins Ausland.
Während der Syrienkonflikt im Westen weitestgehend aus den Nachrichten verschwunden ist, spüren Türkinnen und Türken die Auswirkungen immer noch jeden Tag. Knapp vier Millionen syrische Flüchtlinge leben im Land, zum Ärger vor allem oppositioneller Wählerschichten.
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Außerdem sind hunderte türkische Soldaten in Syrien stationiert. Die mutmaßliche Attentäterin eines Anschlags im Zentrum Istanbuls Mitte November mit sechs Toten und über 80 Verletzten ist Syrerin und soll ihre Instruktionen von der verbotenen PKK aus Syrien erhalten haben. Der Handel beider Länder ist seit über einem Jahrzehnt nahezu zum Erliegen gekommen.
Syrienkonflikt: Der Druck auf Ankara ist groß
Für die Türkei und ihre Regierung ist der Druck massiv, sich dieser Themen anzunehmen. „Die Türkei strebt eine Lösung an, die alle Syrer umfasst und die die territoriale Integrität des Landes bewahrt“, erklärte jetzt der Sprecher der regierenden AKP in Ankara, Ömer Çelik.
Angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in der Türkei mutmaßen Beobachter, dass Ankara darauf abzielt, seine Beziehungen zu Damaskus zu reparieren, um den Wählern im eigenen Land zu zeigen, dass viele der fast vier Millionen im Land lebenden syrischen Flüchtlinge bald wieder in ihre Heimat zurückkehren können.
Ankara könnte die Gespräche mit Damaskus aber auch als Hebel gegenüber der EU nutzen. Denn viele der vier Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei wollen unter keinen Umständen zurück in ihre Heimat, solange Assad dort Präsident ist. Viele dürften sich stattdessen auf den Weg nach Europa machen – und könnten dort eine neue Flüchtlingswelle auslösen, sollte sich der Status quo in ihrem Land nicht ändern.
Erdogan würde durch einen solchen taktischen Winkelzug politisches Gewicht gewinnen – im Ausland, aber auch im Inland. Und das pünktlich vor den Wahlen.
Bei den anstehenden Wahlen in der Türkei ist zwar eine Mehrheit für Erdogan als Präsident sowie seine AKP im Parlament unsicher, doch die Opposition gilt als zerstritten. „Das Problem in diesem Jahr ist, dass die Opposition zu gespalten ist, um die Wahl zu gewinnen, gleichzeitig aber der Ruf der Regierung zu ramponiert ist, um ohne größere Probleme weiter zu regieren“, sagt etwa Türkei-Analyst Selim Koru gegenüber „Turkey Recap“, einem Analyse-Newsletter.
Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden, Millionen Syrer verlassen das Land.
Umso wichtiger ist es für Erdogan und seine AKP, dass sie früh genug die Weichen auf Wahlkampf stellen, um ihre eigenen Chancen zu erhöhen. Die Außenpolitik bietet sich dafür an: Sie ist in der Türkei deutlich dynamischer als etwa in der Bundesrepublik und eignet sich damit immer auch zum Stimmenfang.
Präsident Erdogan: Aussöhnung und Eskalation
Das geplante Treffen zwischen Erdogan und Assad gehört dabei zu einer ganzen Reihe von außenpolitischen Neujustierungen in Ankara, die Beobachter als möglicherweise wahlentscheidend einstufen.
So verhandelt die türkische Regierung im Ukrainekrieg sowohl mit Kiew als auch mit Moskau, hat auch nach Beginn des Angriffskriegs keine Sanktionen gegen Russland erlassen. Mit Drohnenverkäufen an Nato-Mitglieder, Nachbarstaaten und Länder in Afrika hat die Türkei auch Einfluss in diesen Regionen gewonnen.
Vier Millionen Flüchtlinge aus Syrien leben derzeit in der Türkei. Sie sind längst zum Politikum geworden.
Außerdem liebäugelt Erdogan mit einer Mitgliedschaft in der Shanghai Cooperation Organisation, einem Anti-Nato-Bündnis unter faktischer Führung Russlands und Chinas. Gleichzeitig verhindert Präsident Erdogan eine Abstimmung im türkischen Parlament über einen Beitritt Schwedens zur Nato.
Ankara wirft Stockholm vor, zu wenig im Kampf gegen die Terrorgruppe PKK zu unternehmen. Paul Levin, Direktor des Zentrums für Türkei-Studien an der Universität Stockholm, ist von der türkischen Zustimmung zwar überzeugt, diese hänge aber von einigen Faktoren ab. Unter anderem davon, ob Schweden seine Anti-Terror-Gesetze verschärft; aber auch davon, ob die Türkei Zugeständnisse von Nato-Mitgliedern erhält, etwa bei der Reparatur der F16-Kampfjetflotte durch US-Firmen.
Ein besonders emotionales Thema des Wahlkampfs dürfte der Zypern-Konflikt werden. Dort droht eine Eskalation. Sowohl die Insel als auch die Schutzmächte Türkei und Griechenland stehen in der ersten Jahreshälfte vor Wahlen. Während die Republik Zypern den Export von Erdgas vorantreibt, sucht die Türkische Republik Nordzypern die Anerkennung von Staaten wie Russland.
„Die anstehenden Wahlen werden dafür sorgen, dass die Spannungen erhalten bleiben“, erklärte Nigar Göksel von der International Crisis Group gegenüber „Turkey Recap“.
>> Lesen Sie dazu auch: Türkischer Oppositionsführer – „Es wird eine neue Ära beginnen“
Die Wiederannäherung zwischen der Türkei und Syrien dürfte allerdings in ihrer Bedeutung weit mehr als ein Wahlkampfthema sein. Russland und Iran, die beiden weiteren Syrien-Schutzmächte, haben derzeit eigene Probleme: Moskau führt einen bisher erfolglosen Krieg gegen die Ukraine, Teheran sieht sich mit massiven Protesten der Bevölkerung konfrontiert. Kein Wunder, dass Syrien derzeit nicht sehr weit oben steht auf der politischen Agenda der beiden Länder.
Dem syrischen Machthaber dürfte daher derzeit die nötige Rückendeckung fehlen, die er früher in internationalen Verhandlungen hatte. Für die türkische Regierung ist das eine gute Möglichkeit, endlich einen Deal mit Assad zu verhandeln.
Mehr: Warum Präsident Erdogan zum letzten Mal kandidieren will.
<< Den vollständigen Artikel: Türkei: Zurück nach Syrien oder nach Europa – Was Erdogan mit Millionen Flüchtlingen vorhat >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.