Berlin Ob Selbstständige, kleine und mittlere Unternehmen oder große Konzerne – die Wirtschaft klagt über absurden Verwaltungsaufwand durch die EU-Bürokratie. Der Vorwurf: Zum einen kommen belastende Vorgaben direkt aus Brüssel, zum anderen fällt die nationale Umsetzung von Vorschriften häufig wenig praxistauglich aus.
Die Stiftung Familienunternehmen wollte es konkret wissen und hat eine vergleichende Studie durchführen lassen. Anhand eines Beispiels: der sogenannten A1-Bescheinigung.
Werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ein anderes EU-Land entsandt – sei es auch nur für eine kurze Dienstreise – muss der Arbeitgeber eine solche Bescheinigung beantragen. Mit ihr wird klargestellt, dass der Mitarbeiter im Heimatland sozialversichert ist.
Die Studie liegt dem Handelsblatt exklusiv vor. Fazit des Vergleichs von Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien: Hierzulande kostet das Anmeldeverfahren für jede einzelne A1-Bescheinigung viel Zeit und besonders viel Geld.
Hinzu kommen längere Wartezeiten bis zur Erteilung der Bescheinigung. Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen, sagt: „Die Lasten des Alltags, die in unseren Familienunternehmen unendlich viel Kraft und Mittel binden, werden am konkreten Beispiel sichtbar.“
Eine sinnvolle Idee hat problematische Folgen
Eigentlich steckt hinter der A1-Bescheinigung eine sinnvolle Idee: Durch das Formular müssen Arbeitgeber bei Auslandseinsätzen von maximal 24 Monaten innerhalb der EU nicht in mehreren Ländern Sozialversicherungsbeiträge abführen oder Mitarbeiter aus dem heimischen Versicherungssystem abmelden.
Doch die aktuelle Studie, die vom Centres for European Policy Network (CEP) und der Prognos AG erstellt wurde, in Kooperation mit dem Normenkontrollrat des Landes Baden-Württemberg, zeigt die Ineffizienzen: Da das EU-Recht nichts darüber aussagt, welche Angaben der Antrag auf eine A1-Bescheinigung enthalten muss, macht jedes Land, was es will.
So fragen Österreich und Deutschland danach, ob der Beschäftigte in den beiden Monaten vor der aktuellen Entsendung in den gleichen Mitgliedstaat entsandt wurde. Österreich und Frankreich möchten das Anfangsdatum des Beschäftigungsverhältnisses wissen. In Italien muss das Datum der Unterzeichnung des Arbeitsvertrags angegeben werden.
In der Studie heißt es: „Alle untersuchten Mitgliedstaaten verlangen Angaben, die keiner oder nur einige der anderen Mitgliedstaaten verlangen. Darum ist es sehr wahrscheinlich, dass alle vier Mitgliedstaaten die erforderlichen Angaben und damit die Verwaltungskosten reduzieren können.“
Laut der Studie wurden im Vor-Corona-Jahr 2019 in den EU-Mitgliedstaaten 4,6 Millionen A1-Bescheinigungen ausgestellt. Allein in Deutschland waren es 1,8 Millionen Formulare, deutlich mehr als in Italien mit rund 216.000, Österreich mit gut 197.000 und Frankreich mit etwa 126.000 Bescheinigungen.
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Auf Basis von Experteninterviews wurden die „regulatorischen Belastungen“ gemessen. Während in Frankreich der Ablauf vollständig automatisiert ist, bietet Deutschland zwar ein Onlineverfahren. Allerdings lassen sich Mitarbeiterdaten nicht speichern und müssen vom Unternehmen immer wieder neu eingegeben werden.
Die Folge: Die Gesamtzeit für die Beantragung einer A1-Bescheinigung unterscheidet sich in allen vier Ländern „beträchtlich“, wie es in der Studie heißt. So liegt sie in Frankreich und Österreich bei rund 19 Minuten pro Vorgang, in Deutschland bei etwa 26 Minuten und in Italien sogar bei 32 Minuten.
Diese Gesamtzeit für die Beantragung bedeutet demnach Erfüllungskosten je Vorgang von 6,80 Euro in Österreich, von 7,12 in Frankreich und von jeweils 10,28 Euro in Italien und Deutschland.
Auch die Bewilligungszeiten gehen auseinander. So kann das Formular in Frankreich normalerweise direkt heruntergeladen werden. Unternehmen in Italien und Deutschland berichten von längeren Wartezeiten, was die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben behindert.
Unternehmen beklagt „mittelalterliche Kleinstaaterei“
Von den Mühen der A1-Bescheinigung kann auch der Industrieklebstoffhersteller Delo aus dem bayerischen Windach berichten. Hier ließ die geschäftsführende Gesellschafterin Sabine Herold ausrechnen, dass es 2,5 Assistentenstellen kosten würde, alle Formulare „100 Prozent perfekt“ für alle Dienstreisen auszufüllen.
Hinzu kämen Kosten, die durch das Verfolgen der Rechtslage entstünden, insbesondere im Management. Das Fazit des Unternehmens: „Es ist leichter, für eine Dienstreise in die USA zu reisen als in die EU.“
Und Indra Hadeler, Geschäftsführerin Internationale Beziehungen beim Arbeitgeberverband Gesamtmetall, meint: „Die Regeln zur Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU, eine der Grundpfeiler des Binnenmarktes, erinnern leider noch immer an mittelalterliche Kleinstaaterei.“
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Dazu kommt, dass sich die Situation für die Unternehmen zuletzt noch einmal verschärft hat. Hadeler berichtet: „Seit einiger Zeit wird das Mitführen einer A1-Bescheinigung in verschiedenen EU-Mitgliedstaaten wie zum Beispiel Frankreich und Österreich als Nachweis zum angeblichen Schutz vor einem Unterlaufen von Mindestarbeitsbedingungen und vor Schwarzarbeit verlangt.“ Dass zudem Bußgelder angedroht würden, wenn beim Grenzübertritt keine A1-Bescheinigung vorgelegt werden könne, habe mit der ursprünglichen Idee des Sozialversicherungsnachweises überhaupt nichts mehr zu tun.
Änderungen in Deutschland sind nicht zu erwarten
Der Umstand, dass Staaten die A1-Bescheinigung nun als Nachweis zum Schutz vor Lohndumping und Schwarzarbeit verlangen, hat auch das Bundesarbeitsministerium von Hubertus Heil (SPD) umschwenken lassen.
Hierzulande wurde noch bis vor Kurzem auf die ständige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verwiesen, nach der es zulässig sei, bei kurzfristigen und kurzzeitigen Entsendungen auf die Bescheinigung zu verzichten und diese nur bei Nachfragen im Zielland zu beantragen. Nun heißt es: Da einzelne Länder „umfassend sanktionieren“, könne dies jetzt nicht mehr gelten.
Eine Änderung des A1-Wahnsinns scheint in weiter Ferne. Zwar hat die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP in ihrem Koalitionsvertrag versprochen, „unnötige Erfordernisse“ bei A1-Bescheinigungen „rasch abzuschaffen“, indem ein „europäisches elektronisches Echtzeitregister“ eingeführt wird.
Doch auf Nachfrage beim zuständigen Bundesarbeitsministerium heißt es: „Da es sich um ein EU-Rechtsetzungsverfahren handelt, ist eine sichere Prognose über den voraussichtlichen Abschluss nicht möglich.“ Einen Vorschlag habe die EU-Kommission bislang nicht angekündigt.
Die Opposition sieht diese Haltung kritisch. Die wirtschaftspolitische Sprecherin der Unionsfraktion, Julia Klöckner (CDU), sagte dem Handelsblatt: „Es kann doch nicht sein, dass in größeren Unternehmen ein Mitarbeiter nur damit beschäftigt ist, sogenannte A1-Bescheinigungen zum Nachweis der Sozialversicherung zu beantragen.“
Die Ampel, so Klöckner, habe angekündigt, Abläufe und Regeln vereinfachen zu wollen, damit die Wirtschaft wieder mehr Zeit für ihre eigentlichen Aufgaben habe. Es solle sogar ein neues Bürokratieentlastungsgesetz geben. „Bislang wurden Unternehmen und Bürger allerdings enttäuscht“, erklärte die CDU-Politikerin. „Nach einem Jahr Ampel liegen nicht einmal Eckpunkte vor.“
Die Stiftung Familienunternehmen hält es mit Blick auf die Studienbefunde für möglich, die A1-Bescheinigung mit einfachen Maßnahmen „viel effizienter“ zu machen. Demnach könnten die Anträge kurzfristig „schlanker“ und das deutsche Portal „benutzerfreundlicher“ gestaltet werden. Dazu gehöre, dass die Angaben im Formular für dasselbe Unternehmen und dieselbe Person nur einmal eingestellt werden müssten. Dauere eine Entsendung weniger als fünf Tage, könne es ein vereinfachtes Verfahren geben.
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