Sao Paulo In der vergangenen Woche erlebte Brasilia erstmals wieder so etwas wie eine politische Routine. Die hatte es in der brasilianischen Hauptstadt wegen des langen Wahlkampfs und des aufgewühlten innenpolitischen Klimas unter dem rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro schon lange nicht mehr gegeben: Nach der Amtseinführung von Luiz Inácio Lula da Silva am Neujahrstag hatten sich die Woche über die 37 Ministerinnen und Minister Lulas vorgestellt. Lula sprach mit Staatsoberhäuptern, verhandelte über den Etat und plante seine nächsten Auslandsreisen.
Doch die Idylle täuschte. Eine Woche nach Amtsantritt holten Brasilien die Geister der Vergangenheit wieder ein. 3000 radikale Anhänger des abgewählten Präsidenten Bolsonaro stürmten das Regierungsviertel. Sie verwüsteten den Kongress, das Präsidialamt und den Obersten Gerichtshof. Und sie forderten einen Militärputsch, um Lula aus dem Amt zu befördern. „Zwei Jahre haben wir gefürchtet, dass es auch in Brasilien zu einem Sturm auf das Kapitol kommen könnte“, sagt der Politologe Bruno Carazza von der Dom-Cabral-Stiftung in São Paulo. „Nun ist es eingetreten.“
Die Polizei schaute zu, während die Situation eskalierte. Erst nach drei Stunden beendeten Sonderkräfte der Polizei das chaotische Treiben.
Das Militär stützt Bolsonaro
Die Militärs wie die Sicherheitskräfte Brasiliens insgesamt stehen bis heute mehrheitlich hinter dem Ex-Hauptmann Bolsonaro – obwohl der sich nach der Niederlage an den Urnen vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte. Am 30. Dezember war Bolsonaro sogar nach Florida geflogen, um nicht an der Amtsübergabezeremonie teilnehmen zu müssen, wie er sagte – aber auch, so hieß es vor Silvester, um nicht für eventuelle Ausschreitungen seiner Anhänger verantwortlich gemacht werden zu können.
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Die Befürchtungen haben sich als realistisch erwiesen. Der Sturm auf das Regierungsviertel stellt die Regierung Lula vor eine erste Bewährungsprobe: Denn es ist offensichtlich, dass es eine der schwierigsten Aufgaben sein wird, die unter Bolsonaro an die Schalthebel der Macht aufgestiegenen Militärs wieder auf ihre Verteidigungsfunktion zu begrenzen. Zu Hilfe kam Lula das demokratische Ausland: US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und auch der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell versicherten Lula ihre Solidarität.
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Auch aus Deutschland kamen Solidaritätsbekundungen: Das ist kein Zufall. Denn Berlin plant, die seit 2015 eingeschlafene und später unter Bolsonaro ausgesetzte strategische Partnerschaft mit Brasilien wiederzubeleben – immerhin unterhält Deutschland mit Brasilien eine seiner wenigen außereuropäischen strategischen Partnerschaften.
Brasilien ist Deutschlands wichtigster Handelspartner in Südamerika und das mit Abstand wichtigste Zielland für Investitionen deutscher Konzerne auf dem Kontinent. São Paulo gilt immer noch als eine der größten Industriestädte für deutsche Unternehmen jenseits der nationalen Grenzen – so sind etwa die Konzerne Siemens, BASF, Volkswagen, Bayer und SAP dort ansässig. Umgekehrt ist Deutschland der wichtigste europäische Wirtschaftspartner Brasiliens.
Zudem ist Brasilien durch den Ukrainekonflikt, den verschärften Wettbewerb Chinas mit dem Westen und den Kampf gegen den Klimawandel für Deutschland wichtiger geworden: Brasilien liefert Nahrungsmittel in die ganze Welt, die jetzt zum Teil wegen der Ukrainekrise fehlen. Es verfügt über Rohstoffe und Energie, die für die Batterien von E-Autos entscheidend sind – neben Eisenerz wird das Land auch bald in großen Mengen Lithium und grünen Wasserstoff exportieren.
Um die traditionell guten Beziehungen zu Brasilien wiederzubeleben, hat Berlin eine diplomatische Offensive gestartet. So war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier einer der wenigen Politiker aus Europa, die zum Regierungswechsel anreisten. Auch Umweltministerin Steffi Lemke war zugegen. Bundeskanzler Olaf Scholz will Ende Januar nach Brasilien, Chile und Argentinien reisen. Außenministerin Annalena Baerbock plant, im Februar zu folgen. Und auch Wirtschaftsminister Robert Habeck hat zugesagt, im März an den Deutsch-Brasilianischen Wirtschaftstagen teilzunehmen.
Nun wächst die Sorge bei deutschen Unternehmen, dass Brasilien unberechenbar werden könnte. Für Deutschlands Autobauer ist Brasilien schon seit langem wichtige Produktionsstätte und der mit Abstand wichtigste Absatzmarkt in Südamerika. Volkswagen etwa gilt in dem Land als Traditionsmarke und unterhält vier eigene Werke vor Ort. In Brasilien verkauften die Wolfsburger zuletzt mehr Autos als in Frankreich, Spanien oder Italien.
Volkswagen bekennt sich „zur Verteidigung der brasilianischen Demokratie“
Auch für Lkw ist Brasilien der wichtigste Markt in Südamerika. Entsprechend beunruhigt zeigt sich der Konzern in Anbetracht der aktuellen Krawalle. Man lehne die gewalttätigen Attacken auf demokratische Institutionen ab, heißt es etwa von der Lkw-Sparte Traton.
Eine Konzernsprecherin ergänzt, dass sich Volkswagen „zur Verteidigung der brasilianischen Demokratie“ bekenne und seine „langfristige Zusammenarbeit auch mit der derzeitigen Regierung fortsetzen“ werde. In seinen 70 Jahren vor Ort habe VW „starke, auf Respekt basierende Beziehungen zu allen Staatsoberhäuptern aufgebaut, um Arbeitsplätze, Einkommen und Innovationen für den lokalen Automobilsektor und die brasilianische Wirtschaft zu schaffen“.
Siemens Energy zeigt sich ebenfalls beunruhigt. „Das Potenzial für erneuerbare Energien und auch für Wasserstoff ist wie in vielen Ländern Südamerikas groß, daher ist politische Stabilität grundsätzlich wichtig“, hieß es bei dem Dax-Konzern. Brasilien ist mit mehr als 2000 Mitarbeitern und diversen Produktionsstätten der wichtigste Standort des Unternehmens in Südamerika.
Beim Chemiekonzern BASF hieß es, man „beobachte die Situation“ genau. Das Unternehmen betreibt acht Produktionseinheiten sowie 24 Forschungs- und Innovationszentren und Minifarmen in Brasilien und beschäftigt 4245 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
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Mit Betroffenheit werden die Vorgänge in der brasilianischen Hauptstadt auch von der Bundesregierung verfolgt. In Berlin fragt man sich, in welcher Situation sich Lula befinden wird, wenn der Kanzler und seine wichtigsten Minister nach der Gewaltorgie in Brasilia Gespräche mit ihm führen: Doch nach Ansicht politischer Analysten stehen die Chancen nicht schlecht, dass er gestärkt aus seiner ersten Krise hervorgehen wird.
Das dürfte auch für die in Brasilien engagierten deutschen Konzerne eine gute Nachricht sein. Tatsächlich haben die brasilianischen Spitzenverbände der Industrie, der Banken, der Kapitalgesellschaften einstimmig die gewalttätigen Aktionen in Brasilia verdammt – obwohl einige dieser Interessenverbände in der Vergangenheit große Sympathien für Bolsonaro gezeigt hatten und den Linken Lula skeptisch beäugten.
Auch der Präsident der deutschen Außenhandelskammer in São Paulo, Manfredo Rübens, der sich sonst jedweder politischen Stellungnahme enthält, stellte klar: „Als offizielle Vertreter der deutschen Wirtschaft in Brasilien wissen wir, dass Dialog und wirtschaftliche Entwicklung zwischen den beiden Nationen nur möglich sind, wenn Demokratie, gegenseitiger Respekt und Zusammenarbeit herrschen.“
Analysten rechnen nicht mit dauerhaften Problemen
Die Investmentbank JP Morgan erwartet, dass Lula durch die Ereignisse politisch noch weiter nach links rücken könnte, weil die rechte Opposition nach dem Sturm auf das Regierungsviertel diskreditiert ist. „Doch der Kongress wird weiterhin von den Parteien der Mitte dominiert, die zumindest theoretisch eine Kraft gegen die Radikalisierung darstellen“, sagt Matheus Spiess, Analyst der Investmentbank Empiricus.
Er ist zuversichtlich, dass Brasilien in den kommenden Monaten nicht im Chaos versinkt. Die gewalttätigen Aktionen hätten den gewünschten Effekt verfehlt, „die Regierung werden sie damit nicht stürzen“.
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