Washington Bis vor Kurzem schien alles gut zu laufen für den US-Präsidenten. Seine Zustimmungswerte stiegen, die Inflationszahlen sanken. Die Republikaner beharkten sich im Repräsentantenhaus, was Joe Bidens Demokraten seriöser wirken ließ. Der Präsident, so raunte man in Washington, werde bald seine Kandidatur zur Wiederwahl verkünden. Doch seit vergangener Woche ist alles anders. Ab sofort muss man die Biden-Präsidentschaft in zwei Zeitrechnungen einteilen: Vor und nach der Enthüllung der Dokumentenaffäre.
Der Ausnahmezustand erinnert an die Phase um den Afghanistan-Abzug im Sommer 2021. Allerdings trugen damals äußere Umstände zum Chaos bei, nicht alle Pannen wurden Biden angelastet, schließlich erholte sich seine Reputation. Die Dokumentenaffäre hingegen ist selbst verschuldet.
Denn hätte Bidens Team von Anfang an transparent über die Geheimpapiere informiert, wäre die Aufregung womöglich nur halb so groß. Doch stattdessen rückt das Weiße Haus nur scheibchenweise Details heraus und entblößt damit eine erschreckende Fehleinschätzung der Außenwirkung. Ganz so, als hätten die Demokraten nichts aus Hillary Clintons E-Mail-Skandal gelernt.
So wurden die ersten Geheimpapiere aus Bidens Zeit als Vizepräsident von Barack Obama bereits am 2. November vergangenen Jahres gefunden, kurz vor den wichtigen Kongresswahlen. Die Unterlagen hätten laut Gesetz längst nicht mehr im Besitz Bidens sein dürfen. Eine zweite Tranche tauchte am 20. Dezember auf. All das erfuhr die Öffentlichkeit aber erst vor einigen Tagen. An diesem Samstag schließlich korrigierte das Weiße Haus die Zahl der Dokumente erneut nach oben, wieder einmal kam ein wichtiges Detail mit Verzögerung ans Licht.
Top-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Je länger der Skandal brodelt, desto mehr entsteht der Eindruck: Das Weiße Haus mauert und Biden hat etwas zu verbergen. Dabei spielt immer weniger eine Rolle, ob die illegal aufbewahrten Dokumente tatsächlich nur ein Versehen seiner Mitarbeiter waren – als Präsident im Amt kann Biden ohnehin nicht angeklagt werden.
Gefährlicher für ihn ist das Urteil der Bürgerinnen und Bürger. In einem Land, in dem Verschwörungstheorien schneller blühen als Schimmelpilze an feuchten Wänden, hätte das Weiße Haus von Anfang an in die Offensive gehen müssen, nicht erst nach Monaten.
Er gibt seinen Gegnern Munition an die Hand
Biden droht nun der Verlust seines größten Pfundes, nämlich dass ihm die Mehrheit der US-Amerikaner vertraut. Der stümperhafte Umgang mit der Dokumentenaffäre steht im Kontrast zu Bidens Image des Politik-Profis, der Protokolle und nationale Sicherheit ernst nimmt. Es ist durchaus vorstellbar, dass die Krise Bidens Zukunftspläne durchkreuzt, vielleicht sogar seine erneute Kandidatur verhindert.
Die Untersuchung des FBI-Sonderermittlers Robert Hur kann sich über Monate hinziehen. Strategisch gibt Biden jenen Demokraten, die ihn sowieso nicht als Kandidaten für 2024 sehen wollen, Munition an die Hand – und den Republikanern sowieso.
Zwar wurde Biden schon oft unterschätzt. Als Kandidat galt er manchen als zu alt, zu weiß, zu moderat. Doch in den vergangenen zwei Jahren hat er viele Reformen angestoßen, und angesichts des Ukraine-Kriegs kann Europa heilfroh sein, dass nicht Trump, sondern Biden im Weißen Haus sitzt.
Vielleicht wird Biden wieder überraschen und diesen Skandal überstehen. Doch manchmal, das lehrt die amerikanische Geschichte, genügt ein einziges Ereignis, das einen Präsidenten aus der Bahn werfen kann. Die Dokumentenaffäre könnte dieses Ereignis für Biden sein.
Mehr: Wie sich Bidens Dokumentenaffäre von Trumps Geheimpapier-Funden unterscheidet
<< Den vollständigen Artikel: Kommentar: Dokumenten-Affäre: Die desaströse Krisenkommunikation des Weißen Hauses könnte ernste Folgen haben >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.