Berlin „Wir brauchen einen europäischen Industriestrompreis“, sagte Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck am Montag auf dem Handelsblatt Energiegipfel in Berlin. Ohne eine länderübergreifende Lösung könne die Energiepreiskrise nicht gelöst werden. „Das muss so kommen, und ich halte das auch für realistisch“, betonte der Grünen-Politiker.
Ohne Maßnahmen erwarte er Strom- und Gaspreise, die sich auf dem Niveau der Strompreis- und der Gaspreisbremse bewegten. „Das wäre aber für die Industrie sicherlich eine Größenordnung, die nicht dauerhaft wettbewerbsfähig ist“, warnte der Grünen-Politiker.
Subventionen halte er maximal bis zum Ende der 20er-Jahre für möglich. Abgelöst werden sollen sie durch ein anderes Strommarktdesign und die flexiblere Nutzung von Strom, der bislang entsteht, aber noch nicht ins Netz eingespeist wird. Einen Vorschlag der spanischen Regierung, der nach oben und unten begrenzte Preise für erneuerbaren Strom vorsieht, bezeichnete Habeck als „sehr interessant“.
Habeck kündigte Ausschreibungen für den Bau neuer Gaskraftwerke und Details zu der Planung des Wasserstoffnetzes an und schloss auch die Speicherung von Kohlendioxid (Carbon Capture and Storage, kurz CCS) in Deutschland für die Zukunft nicht aus. Nachdem es im vergangenen Jahr fast ausschließlich um die Versorgungssicherheit ging, soll in diesem Jahr also wieder die Energiewende im Vordergrund stehen.
Top-Jobs des Tages
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Ziel ist es, dass ab dem Jahr 2030 mindestens 80 Prozent des in Deutschland verbrauchten Stroms aus CO2-freien Quellen kommen. Im vergangenen Jahr waren es laut dem Fraunhofer-Institut für solare Energieforschung (ISE) 49 Prozent. Die geplante installierte Leistung von 115 Gigawatt Wind an Land bis zum Ende des Jahrzehnts würde bedeuten, dass bis dahin mehr Leistung installiert werden müsste als in den vergangenen 20 Jahren.
Zu wenig Windräder in Deutschland
Knapp 30.000 Windräder drehen sich mittlerweile auf Wiesen, Feldern und in der Nord- und Ostsee. Nachdem der Ausbau in den vergangenen Jahren kaum vorangegangen ist, sind 2022 erstmals wieder mehr Windräder installiert worden. 25 Prozent und damit knapp 300 Windräder mehr als im Vorjahr sind laut der Fachagentur Wind hinzugekommen. Die Zahlen liegen dem Handelsblatt exklusiv vor.
Knapp 30.000 Windräder drehen sich mittlerweile auf Wiesen, Feldern und in der Nord- und Ostsee.
Und trotzdem sei das deutlich zu wenig, moniert Experte Jürgen Quentin von der Fachagentur Wind an Land: „Damit wir auf den Klimaschutzpfad zurückkehren, müsste in diesem und im nächsten Jahr jeweils mehr als doppelt so viel Windenergieleistung installiert werden wie 2022“, sagte er dem Handelsblatt. Auch bei den Genehmigungen herrscht bei Weitem nicht genügend Wachstum. „Der so dringend benötigte Hochlauf der Genehmigungszahlen blieb auf Bundesebene aus“, so Quentin.
>> Lesen Sie hier: In Europa wurden 2022 deutlich mehr Windräder gebaut
Außerdem vereinen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen fast die Hälfte aller neu genehmigten Windräder im vergangenen Jahr. Berlin, Bremen, Hamburg, Saarland und Bayern bilden die Schlusslichter. Sie genehmigten entweder gar keine Windräder oder wie in Bayern gerade mal acht Stück von insgesamt mehr als 4000.
Habeck zeigt sich trotzdem zuversichtlich: „80 Prozent Erneuerbare bis 2030 sind zu schaffen. Das ist machbar“, betonte er am Montag in Berlin. Deutschland müsse nun zeigen, dass es sich als Industrieland mit all seinen Ansprüchen von Versorgungssicherheit und Wohlstand schnell dekarbonisieren könne, „daran wird man uns messen“, so der Minister.
Experten warnen, dass es mit Atom- und Kohleausstieg bei dem langsamen Ausbautempo der Erneuerbaren jedoch zu einer Stromlücke kommen könnte. Statt bei immer mehr Elektroautos, Wärmepumpen und strombetriebenen Anwendungen mit einer steigenden Nachfrage zu kalkulieren, rechnete die Bundesregierung unter Wirtschaftsminister Peter Altmaier die Prognosen zum Stromverbrauch jahrelang schön. Kurz vor seinem Amtsabtritt korrigierte der CDU-Politiker sich dann doch noch.
Nach der jüngsten Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) unter Altmaiers Nachfolger Habeck rechnet die aktuelle Regierung nun sogar mit einem Verbrauch von 750 Terawattstunden im Jahr 2030. Das liegt am oberen Ende der von Studien prognostizierten Bandbreite.
Angst vor Mangellagen schwindet
Die Diskussionen in der Energiebranche sind seit einigen Wochen wieder weniger von der Frage geprägt, ob in Deutschland akute Mangellagen auftreten. Es geht wieder mehr um die Frage, ob und zu welchen Kosten die Beendigung der Energiekrise gelingt und wie teuer die Wende hin zu erneuerbaren Energien wird.
Die Herausforderungen für die Gasversorgung seien 2023 noch immer „riesengroß“, sagte Habeck und warnte davor, sich in Sicherheit zu wiegen. 2022 seien die Herausforderungen aber noch „gigantisch“ gewesen.
Die Sorgen vor einer „Kernschmelze der deutschen Industrie“ seien ein „reales Szenario“ gewesen und Putins Plan. „Wir haben in diesem Jahr einmal in den Abgrund geguckt und wir sind dabei, eine Brücke über den Abgrund zu bauen.“
Wichtigster Bestandteil dieser Brücke sind die neuen Terminals für die Lieferung von Flüssigerdgas (LNG). Am vergangenen Wochenende hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den zweiten Anlandeplatz für LNG im norddeutschen Lubmin eröffnet. Das erste Terminal in Wilhelmshaven ging bereits im vergangenen Jahr in Betrieb. In wenigen Tagen soll die dritte Station in Brunsbüttel folgen, kündigte Habeck an. Über sie können deutsche Unternehmen auf dem Weltmarkt LNG aus Ländern wie USA oder Katar einkaufen.
Die aufgebaute Infrastruktur für verflüssigtes Erdgas (LNG) aus Ländern wie den USA, Katar und anderen müsse nun die sichere Grundlage für die Gaskraftwerke bieten, meint Habeck.
Die Pipelines aus Russland seien in der Lage gewesen, 55 Milliarden Kubikmeter Gas pro Jahr zu transportieren. Nun sei eine Infrastruktur für 14 Milliarden Kubikmeter neu geschaffen worden. 2023 bezog Deutschland vermehrt LNG über seine Nachbarländer. Diese Lieferungen sollen künftig zum Großteil über eigene Terminals abgewickelt werden.
Habeck: Energiekrise könnte 2024 enden
Für den aktuellen Winter gibt der Wirtschaftsminister damit vorsichtig Entwarnung, und auch für den Winter 2023/24 hat er Hoffnung: Wenn es gut laufe, „dann werden wir die Energiekrise im Jahr 2024 endgültig für beendet erklären können“. Sicher ist das noch nicht.
Um den Gasverbrauch im Strombereich zu reduzieren, habe die Bundesregierung Kohlekraftwerke mit knapp sechs Gigawatt aus Reserve wieder ans Netz geholt oder Kraftwerksblöcke nicht abgeschaltet. Habeck sprach von einer „klimapolitischen Sünde“, die er kurz halten wolle. „Ich möchte auf keinen Fall bei der Handelsblatt-Konferenz 2024 hier stehen und sagen: Wir müssen die Kohlekraftwerke noch mal ein Jahr oder zwei Jahre verlängern“, sagte Habeck. Dann hätte man mit Blick auf die strukturelle Krise „komplett versagt“.
Durch die Kohleverstromung, den verzögerten Atomausstieg, Effizienzmaßnahmen, aber vor allem auch durch den ungewöhnlich warmen Winter wurde in Europa in den vergangenen Monaten deutlich weniger Gas verbraucht als üblich. Das hat auch die im August extrem hohen Gaspreise wieder heruntergebracht. Sie seien aber nicht stabil, sagte Habeck. Entscheidend für den Preis seien die Füllstände in den Gasspeichern.
Eine dauerhafte Lösung dafür ist erst in Sicht, wenn mittelfristig Erdgas durch Wasserstoff ersetzt wird. Noch in diesem Quartal sollten die ersten Wasserstoff-Differenzverträge abgeschlossen werden, versprach der Minister. Wasserstoff-Kraftwerke sollen nur selten genutzt werden, müssen aber in der Lage sein, die Stromversorgung über längere Zeiträume aufrechtzuerhalten. Damit sich das für die Betreiber lohnt, muss das Wirtschaftsministerium neue Regulierungen beschließen. Auch das soll demnächst geschehen.
CO2-Speicherung in Deutschland
Verbrannt werden soll dort vorerst blauer Wasserstoff aus Norwegen, bei dessen Produktion das entstehende CO2 abgeschieden und unterirdisch gespeichert wird. Künftig soll es vor allem grüner Wasserstoff sein, der mit erneuerbarer Energie CO2-frei erzeugt wurde.
>> Lesen Sie auch: Experten sprechen sich für CO2-Speicher in Deutschland aus
Eine Speicherung von CO2 in Deutschland schloss Habeck nicht aus. Er sehe aber nicht, dass blauer Wasserstoff im großen Stil in Deutschland hergestellt werde. Das Wirtschaftsministerium arbeitet derzeit an den gesetzlichen Grundlagen, dass CO2 aus anderen industriellen Prozessen ins Ausland exportiert werden kann. Wo das letztlich passiere, bestimmten geologische und ökonomische Fragen, so der Minister.
Trotzdem rief er die Bürgerinnen und Bürger weiter zum Energiesparen auf. Jetzt müsse es darum gehen, möglichst schnell wieder von der zusätzlichen Kohlekraft wegzukommen.
Mehr: Deutschland muss bis Ende 2029 täglich sechs Windräder bauen
<< Den vollständigen Artikel: Energiekrise: Wirtschaftsminister Habeck fordert europäischen Industriestrompreis >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.