Brüssel, Düsseldorf Die gemeinsame Beschaffung von Gas auf europäischer Ebene könnte später beginnen als geplant. Das Gericht der Europäischen Union hat entschieden, dass der Auftrag zur Einrichtung der Beschaffungsplattform derzeit nicht vergeben werden darf. Die Entscheidung liegt dem Handelsblatt exklusiv vor.
Die EU-Kommission ist mit einer Klage konfrontiert, die das Ziel hat, dass die bisherige Ausschreibung abgebrochen und neu aufgesetzt werden muss. Die Kommission hat die Ausschreibung für die Beschaffungsplattform nicht öffentlich gemacht, was nur unter besonderen Bedingungen wie „extremer Dringlichkeit“ vorgesehen ist.
Dadurch konnten sich nicht alle interessierten Unternehmen bewerben. Der Kläger argumentiert, es habe kein unvorhergesehenes Ereignis gegeben, das zu einer extremen Dringlichkeit führen würde. Schon seit März 2022 arbeitet die EU-Kommission daran, den Gasbedarf ihrer Unternehmen zu bündeln. Seitdem hätte sie sich um die Ausschreibung kümmern können, so der Kläger.
„Die Kommission ist von der Rechtmäßigkeit ihres Handelns überzeugt“, sagte eine Sprecherin der Brüsseler Behörde dem Handelsblatt. Man werde den Auftrag schnellstmöglich vergeben. Dem Gericht gegenüber argumentiert die Kommission, es sei ein „unmittelbarer und unvergleichbarer“ Schaden für die EU und ihre Bürger zu erwarten, wenn das Gericht seine Entscheidung nicht schnell aufhebe.
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Bei dem Kläger handelt es sich um die Firma Enmacc aus München, die eine außerbörsliche Gashandelsplattform betreibt und sich gern um den Auftrag beworben hätte. „Wir sind überzeugt, liefern zu können, was die Kommission sucht, schneller und besser als jeder andere“, sagte Geschäftsführer Jens Hartmann dem Handelsblatt.
Kartell gegen überschießende Preise
Die EU will mit der neuen Handelsplattform vermeiden, dass sich das Desaster von 2022 wiederholt. Damals standen die EU-Staaten unter Druck, so schnell wie möglich ihre Gasspeicher zu befüllen. Sie stritten sich um jeden Kubikmeter, der angeboten wurde, und trieben so die Preise hoch. Innerhalb von sechs Wochen vervierfachte sich der Börsenpreis für Gas. Im August lag er kurzzeitig bei über 300 Euro pro Megawattstunde.
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Zwar hat sich die Versorgungssituation entspannt, doch eine Knappheit in der Zukunft ist alles andere als ausgeschlossen: 2022 lagerte in den Speichern noch viel russisches Gas, bis zum Sommer lieferte Gazprom große Mengen davon. Ob sich das 2023 komplett durch Flüssigerdgaskäufe ersetzen lässt, ist noch nicht klar.
„Wir könnten im nächsten Jahr mit einem potenziellen Defizit von fast 30 Milliarden Kubikmetern Erdgas konfrontiert sein“, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch kurz vor Weihnachten. „Durch die Verwirklichung des gemeinsamen Gaseinkaufs werden wir das wirtschaftliche und politische Gewicht der EU nutzen, um die Versorgung unserer Bürger und Industrie zu sichern.“
Auch bei einer Knappheit sollen die Europäer keine Mondpreise für Gas zahlen müssen. Deswegen zwingt die EU die Gas-Einkäufer dazu, ein Kartell zu bilden. Einen Teil des Gases sollen sie über eine gemeinsame elektronische Plattform einkaufen, die den Bedarf der vielen Einkäufer zu großen Ausschreibungen bündelt.
Im Ergebnis bieten also nicht mehr viele europäische Unternehmen auf eine LNG-Lieferung, sondern viele LNG-Lieferanten geben Angebote für wenige gemeinsame europäische Nachfragepakete ab. So soll der Preis gedrückt werden.
Algorithmus spielt entscheidende Rolle
Diese Plattform ist es, deren Betrieb von der Kommission möglicherweise falsch ausgeschrieben wurde. Am 30. November 2022 verschickte die Kommission die Ausschreibung an mögliche Bewerber.
Auf 40 Seiten wird in dem Dokument festgelegt, was verlangt wird. Im Kern geht es um ein Computersystem, in dem Händler ihren Gasbedarf eintragen können und das die nachgefragten Mengen mithilfe eines Algorithmus zu sinnvollen Paketen bündelt.
Dieser Algorithmus könnte der entscheidende Punkt für den Erfolg der Plattform werden: Nur wenn die von ihm generierten Nachfragepakete auf dem Weltmarkt attraktiv genug sind, werden sich die Verkäufer dafür interessieren.
Daneben gibt es in der Ausschreibung Anforderungen an die Abwicklung der Handelsgeschäfte, an die IT-Sicherheit und eine Pflicht zu Reportings und zur Dokumentation. „Vieles in dieser Ausschreibung ist wenig konkret“, sagt Hartmann. „Umso wichtiger wäre es, dass unterschiedliche Bewerber ihr Konzept einer Handelsplattform der Kommission vorstellen können. Wir haben uns vergeblich um eine konstruktive Zusammenarbeit bemüht. Als letzte Option blieb uns leider nur der Rechtsweg.“
Auch mit Hartmann nicht in Verbindung stehende Juristen melden Zweifel am Vorgehen der Kommission an. „Äußerste Dringlichkeit wird sehr häufig als Vorwand genutzt, um nicht öffentlich ausschreiben zu müssen“, sagt die Vergaberechtsexpertin Bettina Tugendreich von der Kanzlei Raue. „Aber nach meiner Erfahrung hält das so gut wie nie einer rechtlichen Prüfung durch die Gerichte stand.“ Der Energierechtler Martin Riedel von der Kanzlei Aecoute sagt: „In der Regel haben Kläger große Erfolgsaussichten, wenn sie gegen solche nicht-öffentlichen Ausschreibungen vorgehen.“
Zu 90 Prozent müssen die Gasspeicher laut Gesetz im Herbst 2023 wieder gefüllt sein. Mindestens 15 Prozent der dafür benötigten Menge sollen über die neue Plattform eingekauft werden. In jedem Fall sollen es also Gasmengen im Wert von vielen Milliarden Euro sein, die über das System verkauft werden.
Relevant für die Wasserstoffwirtschaft der Zukunft
Die Unternehmen können freiwillig noch mehr Gas über die Plattform einkaufen. Aber auch schon 15 Prozent können einen entscheidenden Effekt auf den Markt haben. Mehr als die Hälfte des Gases kommt über langfristige Verträge in die EU. Die 15 Prozent stehen also wahrscheinlich für mindestens ein Drittel der kurzfristig gehandelten Menge. Wenn der Preis für diese Mengen gedrückt wird, sinken auch die Preise, die an anderen Handelsplätzen für kurzfristige Geschäfte aufgerufen werden.
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Das hätte wiederum auch auf die langfristig vereinbarten Lieferungen einen Effekt. Die Preise für diese Lieferungen sind oft an die Börsenpreise gekoppelt.
Ob die Plattform nach 2023 weiter gebraucht wird, ist noch unklar, aber nicht ganz unwahrscheinlich. Energieexperten empfehlen, auch den Kauf von Wasserstoff europäisch zu organisieren. „Vielleicht werden hier Weichen für die Zukunft gestellt“, sagt Hartmann. „Dann wäre es umso unfairer, dass nicht alle Wettbewerber die Chance haben, den Auftrag zu bekommen, weil die EU Kommission unnötigerweise ein intransparentes Verfahren gewählt hat.“
<< Den vollständigen Artikel: Europäische Union: Rückschlag für gemeinsame Gasbeschaffung: Gericht bremst Ausschreibung der Plattform >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.