Wien So groß der Widerstand auch ist, der Ungarns Ministerpräsident in der Europäischen Union entgegenschlägt – in der Heimat regiert Viktor Orban fast unangefochten. Eine Berufsgruppe betreibt allerdings hartnäckig Opposition: die Lehrer.
„Unsere Situation ist so schlecht, dass wir nichts mehr zu befürchten haben“, sagt Erzsebet Nagy. Sie war 40 Jahre lang Lehrerin, nun ist sie für die im Jahr 1988 entstandene Gewerkschaft PDSZ tätig.
In Ungarn demonstrieren und streiken Lehrer und Schüler seit rund einem Jahr.
Unter ihnen ist David Ongjerth, der an einem Budapester Gymnasium Englisch und ungarische Literatur unterrichtet. „Wir fühlen uns von der Regierung erniedrigt“, sagt er. Vor allem durch das Zentrum Budapests ziehen immer wieder Demonstrationszüge. Am 23. Oktober gab es in der ungarischen Hauptstadt eine Kundgebung mit 60.000 Teilnehmern. In diesen Tagen erreichen die Aktionen einen Höhepunkt: Lehrer und Schüler planen verschiedene Streikaktionen, am 31. Januar soll ein Großdemonstration stattfinden.
Unmittelbarer Auslöser der Proteste sind die niedrigen Löhne. Junge Lehrkräfte beklagen sich etwa, sie könnten sich das Leben in Budapest kaum leisten – die Mietausgaben zehrten einen großen Anteil des Gehalts auf. Die Einstiegslöhne zählen laut einer aktuellen Übersicht der EU-Kommission zu den niedrigsten im Staatenbund.
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Seit 2015 habe sich der Grundlohn nicht mehr erhöht, klagen die Lehrer. Generell ist es für viele Ungarn finanziell eng geworden. Die Inflation betrug im Dezember 24,5 Prozent und war damit so hoch wie in keinem anderen EU-Land. Geradezu in die Höhe geschnellt sind die Nahrungsmittelpreise mit einem Plus von durchschnittlich fast 45 Prozent.
In Ungarn fehlen zahlreiche Lehrer
Die schlechte Lohnsituation ist allerdings nur einer der Gründe, warum die Lehrer unzufrieden sind. Missmut herrscht auch wegen der Arbeitsbedingungen. Diese hätten sich in den vergangenen Jahren laufend verschlechtert, beklagen die Lehrer. So würden Überstunden nicht ausreichend abgegolten.
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Das Monitoring der EU-Kommission stützt diese kritische Einschätzung des Schulsystems. Der Lehrermangel werde in Ungarn zunehmend zu einer Herausforderung, heißt es in einem Bericht. Viele Lehrer verließen nach einigen Jahren den Beruf, sodass sich besonders in Fächern wie Mathematik und Fremdsprachen die Knappheit laufend verschärfe. Die Lehrer müssten in Ungarn so viele Unterrichtsstunden erteilen wie nirgendwo sonst in der EU, bilanziert die EU-Kommission.
Unzufrieden ist die Lehrerschaft auch mit dem Unterrichtsmaterial. Teilweise kritisiert sie, dass dieses eine ideologische Schlagseite aufweise und etwa den ungarischen Nationalismus betone. Generell missfällt den Lehrern die Qualität des Materials. Ongjerth kritisiert, die Schulbücher würden „zu rasch und mit wenig Sorgfalt produziert“.
Auch die demonstrierenden Schüler sehen die Unterrichtsmaterialien kritisch. Der Staat schränke die freie Wahl bei den Schulbüchern immer weiter ein. Zudem verlangen sie von der Regierung mehr Respekt für die Lehrkräfte und sorgen sich, dass sich die Betreuung durch den Lehrermangel verschlechtern könnte.
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So laut ist mittlerweile der Protest der Lehrer, dass Orbans Regierung ihn nicht mehr ignorieren kann. Wie meistens, wenn im Land etwas schiefläuft, macht sie dafür aber das internationale Umfeld und besonders die EU verantwortlich. Zunächst hatte der Kanzleramtsminister Gergely Gulyas im vergangenen Jahr gesagt, angesichts der vielen Flüchtlingskinder aus der Ukraine sei es nicht der richtige Zeitpunkt, um zu streiken. Dann versprach er den Lehrern höhere Gehälter, sobald die EU die Finanzmittel aus dem Wiederaufbaufonds endlich freigebe.
Mittlerweile sieht es so aus, als ob Ungarn ab diesem Frühjahr Geld aus Brüssel erhalten könnte, sollte die Regierung bis dahin die entsprechenden Auflagen zur Rechtsstaatlichkeit erfüllen. Prompt hat die Regierung den Lehrern darauf eine Gehaltserhöhung ab Januar dieses Jahres gewährt. Besänftigt hat das die Lehrkräfte allerdings nicht. Es seien bloß die Zuschläge um rund zehn Prozent angehoben worden, nicht aber die Grundgehälter, heißt es von ihrer Seite. Deshalb könne die Erhöhung jederzeit wieder gestrichen werden.
In den vergangenen Jahren haben immer wieder vereinzelte Berufsgruppen gegen Orbans Politik aufbegehrt. So blockierten im vergangenen Sommer Kleinunternehmer Budapester Brücken, weil die Regierung das Steuersystem zu ihren Ungunsten verändert hatte. Allerdings versandete der Protest nach kurzer Zeit.
Im Vergleich mit den Kleinunternehmern zeigen die Lehrer und Schüler viel Durchhaltewillen. Trotzdem scheint die Mobilisierung schwierig zu sein. „Die Gewerkschaften haben nur wenige zahlende Mitglieder“, sagt Lehrer Ongjerth. Wenn in dieser Woche 20 Prozent der Lehrkräfte an den Aktionen teilnähmen, sehe er das als einen Erfolg an. „Lehrer haben keine Erfahrung mit Streiks.“
Die politische Ausrichtung der demonstrierenden Lehrer ist vielfältig. Unter ihnen seien auch Wähler der Regierungspartei Fidesz, sagen Beobachter. Die Mehrheit sei aber gegen Orbans Partei eingestellt. Allerdings würden nur wenige Lehrer in der Hoffnung streiken, in Ungarn eine politische Neuausrichtung einleiten zu können.
„Die Gewerkschaften wollen keine Fundamentalopposition gegen Orban betreiben“, sagt die Arbeitnehmervertreterin Nagy. „Uns geht es um die Schule, zumal viele unserer Mitglieder auch in die Oppositionsparteien nicht viel Vertrauen haben.“
Derweil geht die Regierung rechtlich gegen die Lehrer vor. 15 von ihnen sind wegen „zivilen Ungehorsams“ in den vergangenen Monaten entlassen worden. Die Regierung hat ein Gesetz zu „minimalen Dienstleistungen“ geschaffen, welche die Lehrkräfte zu erbringen haben. Demnach müssen die Kinder und Jugendlichen auch während einer Streikaktion in der Schule betreut werden, und 50 Prozent der Unterrichtsstunden sind abzuhalten. „Wir müssen uns Tricks ausdenken, um trotzdem zu streiken“, sagt Nagy. So bitte man die Eltern, die Kinder einfach für einige Stunden nicht in die Schule zu schicken.
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