Berlin, Brüssel Paolo Gentiloni dürfte keine leichten Tage in Berlin verbringen. Mit Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt (SPD) sprach der EU-Wirtschaftskommissar am Dienstagmorgen, bis neun Uhr war das Treffen angesetzt. Doch der Gesprächsbedarf war größer, Gentiloni traf zu seinem rund ein Kilometer entfernten Anschlusstermin erst um 9.43 Uhr ein.
Gentilonis wichtigstes Anliegen: die Antwort Europas auf das US-amerikanische Subventionsprogramm „Inflation Reduction Act“ (IRA). Es sieht Hilfen von 369 Milliarden Dollar und massive Steuervergünstigungen für Klimaschutzbranchen vor. Europa fürchtet eine Abwanderung wichtiger Teile seiner Industrie.
Brüssel will dagegenhalten, ebenfalls mit Steuererleichterungen für bestimmte grüne Investitionen, wie am Montag durchsickerte. Dafür soll das Beihilferecht gelockert werden. So steht es im Entwurf für den „Green Deal Industrial Plan“ der EU-Kommission, der am Mittwoch offiziell vorgestellt wird.
Ein „Subventionskrieg“ müsse vermieden werden, sagte Gentiloni in Berlin, und erklärte, der Vorschlag werde „eine Chance zur Beschleunigung und Straffung der Verfahren sein, insbesondere für die, die mit der grünen Transformation verbunden sind“.
Doch in großen Teilen Europas ist von Euphorie keine Spur, im Gegenteil: Befürchtet wird vielmehr die Fragmentierung der EU durch den Plan. Österreichs Finanzminister Magnus Brunner (ÖVP) etwa sagte dem Handelsblatt, Regularien und Genehmigungsprozesse müssten vereinfacht werden, „anstatt durch einen Subventionswettbewerb in einen Handelskrieg zu schlittern, der nachhaltig unseren Wohlstand gefährdet“.
Mitgliedstaaten fürchten Auseinanderdriften der EU
Schon vergangene Woche hatten mehrere Mitgliedstaaten ihre Abneigung deutlich gemacht gegen genau das Vorgehen, das Brüssel jetzt vorgeschlagen hat. In einem Brief an Kommissionsvize Valdis Dombrovskis hatten neben Österreich auch Dänemark, Finnland, Estland, Irland, Tschechien und die Slowakei gewarnt, dass eine Lockerung des Beihilferechts den Wettbewerb im Binnenmarkt gefährden würde.
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Die Kritiker verweisen darauf, dass die Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen die Beihilferegeln während der Pandemie bereits zweimal gelockert hat. Rund 80 Prozent der daraufhin ausgezahlten Staatshilfen flossen an deutsche und französische Unternehmen, weil die beiden Staaten dafür ausgeprägtere finanzielle Möglichkeiten haben.
Die EU-Kommission will das Problem der ungleichen Vorteile lösen, indem ihr grüner Industrieplan nicht aus den nationalen Haushalten, sondern mit einer „angemessenen Finanzierung auf EU-Ebene“ hinterlegt wird. Details dazu bleibt die Kommission aber bislang schuldig.
In Brüssel wird erwartet, dass wohl bestehende Gelder aus dem EU-Haushalt und dem Corona-Sonderfonds umgeschichtet werden, um einen neuen „Souveränitätsfonds“ zu füllen. Tatsächlich lagern dort noch Milliarden an ungenutzten Mitteln. Ob diese als Antwort auf den IRA ausreichen, ist allerdings umstritten. Die Alternative, um der Fragmentierung der EU zu begegnen, wäre frisches Geld: Die EU könnte gemeinschaftlich Schulden aufnehmen.
Doch diese Idee fehlt vollständig im Papier der EU-Kommission. Eine gemeinsame Schuldenaufnahme blockieren rund zehn EU-Länder, darunter auch die sieben, die sich über eine Lockerung des Beihilferechts pikieren – aber allen voran Deutschland.
Gentiloni will europäische Schulden – und trifft auf „freundliche“ Ablehnung
Gentilonis Besuch in Berlin ist daher weniger eine Tour zum Erklären der eigenen Vorschläge als vielmehr der Versuch, den eigenen Vorstoß zu erweitern. Der Kommissar ist das Gesicht der Befürworter neuer EU-Schulden. Der Italiener hatte in den vergangenen Wochen mehrfach deutlich gemacht, dass er das für alternativlos hält. Allerdings ist das Thema auch in der Kommission umstritten. Und mit dem Papier seiner Institution ist Gentiloni endgültig in der Defensive.
Kommunikativ versucht er sich nun herauszuwinden. Man dürfe die Diskussion um die Antwort auf den IRA nicht vom Ende her denken, sagt er. Allen Beobachtern ist aber klar, dass europäische Kredite für Gentiloni bei der Debatte um das Vorgehen der EU nicht am Ende, sondern am Anfang stehen. Wenn er noch einen Erfolg einfahren will, muss er zuvorderst die Deutschen auf seine Seite bringen.
Am Montagabend berichtete Gentiloni bereits bei einer Veranstaltung der Berliner Hertie School von seinen Gesprächen in der deutschen Hauptstadt – insbesondere von dem mit Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Lindner ist der Inbegriff des deutschen Widerstands gegen Gentiloni.
Der Liberale betont stets, das Geld aus den bestehenden EU-Töpfen reiche aus. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hält nicht viel von neuen EU-Schulden. Und selbst im Umfeld des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck war die Unterstützung dafür schon einmal bedeutend größer.
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Doch ohnehin müsste Gentiloni Lindner überzeugen. Von einem „durchaus freundlichen“ Gespräch mit dem Finanzminister berichtete er vor den Berliner Studierenden. Lindner habe seine Position aber natürlich klargemacht. „Das hat mich nicht völlig überrascht“, scherzte Gentiloni. Weiter führte er nicht aus, nach einer positionellen Annährung mit dem Minister klang das nicht.
Das wäre auch verwunderlich, denn in Berlin herrscht nicht einmal Einigkeit, ob Steuervergünstigungen wie von der Kommission vorgeschlagen überhaupt das richtige Mittel sind. Das Kanzleramt soll dem positiv gegenüberstehen, heißt es aus Regierungskreisen, weil die Firmen gleich ihre Fördermöglichkeiten erkennen könnten.
Bundeswirtschaftsminister Habeck hatte diesen Weg schon in einem Papier vor Weihnachten ins Spiel gebracht. Allerdings gibt es auch Zweifel in seinem Haus: Steuervergünstigungen seien nicht zielgenau genug.
Zweiter Verhandlungsstrang: EU-Schuldenregeln
Als gute Nachricht verkaufte Gentiloni aber, dass Lindner zugesagt habe, sich in der Diskussion um die Reform der EU-Schuldenregeln zu engagieren. Dafür hatte die EU-Kommission im Herbst ihre Vorschläge vorgelegt. Für die Befürworter neuer europäischer Schulden könnte das ein adäquates Substitut sein, indem man ihnen statt europäischer Schulden mehr Spielraum bei der nationalen Verschuldung gibt.
Gentiloni hat damit mehr als einen Verhandlungsstrang. Doch das dürfte es ihm kaum leichter machen. Denn die Bundesregierung und insbesondere FDP-Chef Lindner haben bei den Schuldenregeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts längst klargemacht, keinesfalls so weit gehen zu wollen, wie die EU-Kommission es sich vorstellt.
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