Berlin Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat für 2023 das „Jahr der Industriepolitik“ ausgerufen. Spätestens mit dem US-Subventionsprogramm „Inflation Reduction Act“ (IRA), das 369 Milliarden Dollar Staatshilfen für grüne Industrien beinhaltet, häufen sich in Europa die Forderungen für staatliche Eingriffe in die Wirtschaft. Die EU-Kommission hat diese Woche Steuerrabatte und eine Lockerung des Beihilferechts als Antwort auf den IRA vorgeschlagen.
Aber wie viel Industriepolitik muss sein, und wo ist die Grenze? Zwei deutsche Ökonomen haben da höchst unterschiedliche Ansichten. Lars Feld, Leiter des Freiburger Eucken Instituts und unabhängiger Chefberater von Finanzminister Christian Lindner (FDP), hält auch in diesen Zeiten Zurückhaltung für geboten. „Mehr Industriepolitik schadet“, sagt er. Jens Südekum, Professor für internationale Volkswirtschaftslehre in Düsseldorf, hält dagegen: „Allein mit der Lehrbuch-Logik kommen wir nicht weiter.“
Herr Feld, Europa will mit einem großen Förderprogramm für grüne Technologien auf die Industriehilfen Chinas und vor allem der USA antworten. Erleben wir gerade die Renaissance der Industriepolitik, die Rückkehr des starken Staates?
Feld: Beim Klimaschutz kommt man ohne Staat nicht aus. Allerdings darf das längst nicht den großen Aufmarsch in der Industriepolitik bedeuten. Ich habe große Sorge, dass wir unter diesem Deckmantel in eine breite Subventionierung alter Industrien verfallen.
Haben Sie ein Beispiel?
Feld: Es ist richtig, der Stahlindustrie den Übergang zu einer klimaneutralen Produktion zu erleichtern. Aber viele sehen ja jetzt schon Investitionshilfen für die Stahlindustrie auf Dauer vor. Der Staat regelt den Klimaschutz über die Bepreisung von CO2-Emissionen und muss bei der Unterstützung von Forschung und Entwicklung mehr tun. Mehr Industriepolitik hingegen schadet.
Herr Südekum, laufen wir gerade in einen großen Subventionswettlauf, den Herr Feld fürchtet?
Südekum: Industriepolitik ist ein schillernder Begriff, an dem man sich abarbeiten kann. Es geht nicht um die Frage, mit altehrwürdiger Industriepolitik alte Industrieschiffe zu päppeln. Aber spätestens die Energiekrise zeigt doch deutlich: Allein mit der Lehrbuch-Logik kommen wir nicht weiter.
Das heißt?
Südekum: In der Theorie mag die CO2-Bepreisung das beste Mittel für den Klimaschutz sein. Aber das allein greift zu kurz. Das zeigt doch ausgerechnet das Mutterland des Kapitalismus: Die Amerikaner können noch immer nichts mit CO2-Preisen anfangen und setzen stattdessen auf umfassende Subventionen. Wenn wir darauf nur mit noch höheren CO2-Preisen reagieren, verbauen wir der europäischen Industrie jegliche Zukunft. Die einzig logische Reaktion auf den „Inflation Reduction Act“ ist es, ebenfalls zu subventionieren.
Feld: Das sehe ich anders. Der IRA ändert die Lage der europäischen Industrie nicht so grundlegend. Vielmehr holen die Amerikaner aus ihrer Sicht nur das nach, was wir mit unseren staatlichen Beihilfen schon lange machen. Bloß verbinden wir das nicht mit protektionistischen Regeln. Im Grundsatz braucht es keine breite europäische Reaktion auf den IRA, sondern eine Lockerung der ‚Buy American‘-Klausel. Zudem: Die amerikanischen Bundesstaaten setzen schon lange auf Emissionshandel zur CO2-Bepreisung. Es liegt eben in ihrer Kompetenz und nicht derjenigen der Bundesebene.
Den protektionistischen Teil könnte Europa, wenn es nach Frankreich geht, noch nachholen. Die Franzosen stellen sich als Antwort auf den IRA eine „Made in Europe“-Strategie inklusive Produktionszielen für bestimmte Sektoren vor.
Feld: Davon halte ich gar nichts.
Südekum: Von Produktionszielen bin ich auch nicht erfreut. Aber der Grundgedanke ist doch der richtige: Wir müssen identifizieren, welche Industrien wir hier brauchen, um zukunftsfähig zu werden. Es gibt beispielsweise weltweit rund 600 Projekte zum Bau von Elektrolyseuren für die Herstellung von Wasserstoff. Noch ist die Hälfte davon in Europa. Die USA wollen mit dem IRA jetzt aber möglichst viele davon zu sich locken. Da kann Europa nicht einfach zugucken. Dafür brauchen wir clever ausgearbeitete Anreizprogramme.
Wie könnten die aussehen? Die EU-Kommission hat jetzt Steuervergünstigen für die Wirtschaft vorgeschlagen.
Südekum: Das wäre eine gute Idee, wir sollten generell die sinnvollen Aspekte des IRA möglichst übernehmen. Steuervergünstigungen sind ein kluger Ansatz, sie sind unbürokratisch und schnell umsetzbar.
Feld: Um der Industrie den Übergang zu ermöglichen, wären Steuervergünstigungen ein probates Mittel. Allerdings sagt die EU-Kommission bislang nicht, welche Rolle Steuervergünstigungen spielen könnten. Ich fürchte, dass die EU-Kommission sich nicht davon abbringen lassen wird, selbst die volle Entscheidungsgewalt über die Förderung von Projekten in der Hand zu behalten. Dabei wären Steuervergünstigen viel besser in der Breite anwendbar.
Südekum: Diese Breite sollte aber unbedingt eingeschränkt werden. Die Steuergutschriften sollten nur an Unternehmen gehen, die in die Transformation investieren. Pauschale Unternehmensteuersenkungen sollte es hingegen nicht geben, das wäre nicht zielgenau.
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Feld: Bei der Standortpolitik geht es ja nicht darum, zielgenau zu sein, sondern günstige Rahmenbedingungen zu schaffen. Und da hat Deutschland im internationalen Vergleich eine der höchsten Unternehmensteuerbelastungen, steht sogar schlechter da als Frankreich, und das ist schon ein Kunststück.
Südekum: Wir sind kein Niedrigsteuerland, sondern liegen international im Mittelfeld. In der Steuerpolitik sehe ich jetzt wirklich nicht den höchsten Handlungsbedarf.
Zudem schlägt die EU-Kommission vor, dass Staatshilfen durch eine Reform des Beihilferechts schneller und umfassender genehmigt werden können. Treibt das nicht einen Keil zwischen die finanzstarken Staaten der EU, vor allem Deutschland, und die, die nicht so große Möglichkeiten für Staatshilfen haben?
Südekum: Grundsätzlich ist es schon sinnvoll, das Beihilferecht zu vereinfachen, es ist einfach zu komplex. Aber ja, es gehen Gefahren damit einher. Während der Coronazeit und in der aktuellen Energiekrise haben fast nur noch Deutschland und Frankreich in Europa Beihilfen ausgeschüttet, weil sie die finanziellen Möglichkeiten dafür haben. Macht man ihnen das jetzt noch leichter, droht das die Ungleichgewichte in der EU enorm zu verstärken.
Wie lässt sich das verhindern?
Südekum: Es ist nicht überraschend, dass sich ausgerechnet Deutschland gegen eine europäische Schuldenaufnahme zur Finanzierung der Antwort auf den IRA versperrt. Deutschland will das gelockerte Beihilferecht zu seinem eigenen Vorteil ausnutzen. Aber so kann man den USA doch nicht begegnen. Es braucht eine gemeinschaftliche europäische Strategie, und die Finanzierung muss ein Teil davon sein.
Feld: Das sehe ich komplett anders. Die Mittel im Rahmen von „Next Generation EU“ sind bei Weitem noch nicht aufgebraucht. Da jetzt schon von zusätzlichen EU-Töpfen zu reden ist verfehlt – und rechtlich fragwürdig. Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zu „Next Generation EU“ die Einmaligkeit einer gemeinsamen europäischen Schuldenaufnahme betont.
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Südekum: Es stimmt, die Debatte darf sich nicht darauf fokussieren, neue Töpfe zu schaffen. Wir müssen erst einmal die Richtung und die Instrumente klarkriegen. Und daraus ergibt sich dann der Finanzbedarf. Aber klar ist: Am Geld darf es am Ende nicht scheitern.
Auch die EU-Kommission will von neuen europäischen Schulden erst einmal absehen, auch weil Deutschland sich sperrt. Herr Feld, würden Sie damit im Voraus die Möglichkeiten beschränken?
Feld: Es ist richtig, erstmal zu schauen, was getan werden soll. Aber es stellt sich die Frage, ob alle EU-Länder außer Deutschland und Frankreich wirklich nicht in der Lage sind, eigene Mittel aufzubringen. Das glaube ich nicht. Stattdessen versuchen Italien und andere Länder doch bei jeder Gelegenheit, die Schuldenregeln aufzuweichen und Schulden zu vergemeinschaften – jetzt eben erneut, aufgehängt am IRA. Das ist verständlich, aber man muss dem nicht nachgeben.
Südekum: Lars, wir stehen vor einer Jahrhundertaufgabe, ähnlich wie bei der deutschen Einheit. Die haben wir doch auch nicht am Geld scheitern lassen.
Feld: Selbst bei der Wiedervereinigung haben wir kein „whatever it takes“ gemacht.
Machen wir es doch mal konkret. Ein Chemiekonzern hat die Ammoniakproduktion eingestellt. Den braucht es aber für Adblue, einen zumindest derzeit strategischen Rohstoff. Um die Produktion wieder hochzufahren, verlangt der Chemiekonzern Subventionen. Was täte der Wirtschaftsminister Lars Feld?
Feld: Nachdem die Chemiebranche in der Energiekrise im vorigen Jahr völlig überzogen hat, würde ich Härte zeigen – und kein Steuergeld geben.
Südekum: Die Frage ist doch: Was sind strategisch wichtige Güter? Halbleiter stehen ziemlich sicher auf der Liste. Aber wir müssen auch in anderen Bereichen heimische Produktion aufbauen. Ob Ammoniak jetzt dabei ist? Für Deutschland vielleicht nicht, für Europa vielleicht schon. Für Deutschland sind es dagegen ziemlich sicher Batterien, wenn wir ein Autoland bleiben wollen.
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Feld: Meine Liste strategischer Güter wird sicher viel kürzer als die von Jens. Ich würde es gar nicht kompliziert machen. Solange Ammoniak in Europa, den USA oder einem dem Westen freundlich gesinnten Land produziert werden kann, warum sollte es Subventionen geben?
Südekum: Machen wir uns nichts vor. Das wird alles eine ziemlich hässliche Veranstaltung. Am Ende wollen auch die Produzenten von Schokokeksen auf der Förderliste stehen. Hier muss die Politik stark bleiben und systematisch vorgehen – dabei kann übrigens Wissenschaft helfen.
Mehr: Energiekosten, Bürokratiewahn, Personalmangel: Wohin steuert die deutsche Industrie?
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