Feb 9, 2023
77 Views
Comments Off on Tempolimit: Warum Deutschlands Autobahnen ein Sonderfall sind
0 0

Tempolimit: Warum Deutschlands Autobahnen ein Sonderfall sind

Written by Clara Thier


Düsseldorf Rennfahrer Sebastian Vettel will es, der Tote-Hosen-Sänger Campino will es, und die Gewerkschaft der Polizei NRW will es auch – die Rede ist vom Tempolimit auf Autobahnen. Neben zahlreichen Experten für Umwelt und Verkehr fordern der Website tempolimit.jetzt zufolge unter anderem fast zwei Drittel der Bevölkerung, die Mehrheit im ADAC, der Bayerische Ärztetag und einzelne CDU-Abgeordnete die Geschwindigkeitsbegrenzung.

In der Geschichte der BRD war die FDP nicht die einzige Partei, die einem Tempolimit kritisch gegenüberstand. Wie hat sich die Debatte um das Tempolimit in Deutschland entwickelt? Was spricht für und gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung? Und wie wahrscheinlich ist es, dass das Tempolimit doch noch kommt? Ein Überblick.

Ist Deutschland das einzige Land ohne Tempolimit auf Autobahnen?

In Europa gibt es außer in Deutschland nur ein weiteres Gebiet ohne Tempolimit: die Isle of Man. Die Insel ist im Besitz des britischen Königshauses, zählt aber nicht zum Vereinigten Königreich. Dort gilt ein Tempolimit von 112 Stundenkilometern (km/h).

In allen Nachbarländern Deutschlands gibt es eine Tempoobergrenze im Straßennetz, die niedrigste tagsüber mit 100 km/h in den Niederlanden, die höchste mit 140 km/h in Polen. Deutschland ist das einzige Industrieland weltweit ohne Tempolimit, und überhaupt gibt es nur wenige andere Länder ganz ohne Geschwindigkeitsbegrenzungen.

Warum hat Deutschland bisher kein Tempolimit?

Die Diskussion um Tempolimits ist fast so alt wie das Automobil selbst. Entscheidend ist das Jahr 1953, als die Regierung Konrad Adenauers alle Begrenzungen auf Autobahnen in Westdeutschland aufhob. In der DDR hingegen galt ein Tempolimit von 100 km/h.

Als die Anzahl der Verkehrsunglücke in der BRD in den folgenden Jahren drastisch stieg, forderte 1957 ausgerechnet ein CDU-Politiker, Oskar Rümmele, Tempolimits von 50 km/h innerorts, 80 km/h außerorts und 90 km/h auf Autobahnen. Damals stellte sich der spätere Kanzler Helmut Schmidt (SPD) gegen den Vorschlag; stattdessen solle man erst mal vernünftige Straßen bauen, sagte Schmidt seinerzeit. Auch der ADAC und insbesondere die Autoindustrie machten Stimmung gegen Rümmeles Vorschlag, und so blieben die Autobahnen ohne Tempolimit, während innerorts eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h galt.

1970 starben 21.000 Menschen auf den Straßen der Bundesrepublik – ein Rekord. Kurz darauf, als Reaktion auf die Ölkrise 1973 und 1974, führte die Bundesregierung ein befristetes Tempolimit von 100 km/h auf Autobahnen ein. Die Zahl der Verkehrstoten ging zurück.

Der damalige Verkehrsminister Lauritz Lauritzen und Kanzler Willy Brandt (beide SPD) gaben sich zuversichtlich, ein dauerhaftes Tempolimit von 120 km/h umzusetzen. Als Kompromiss schlugen sie der Union 130 km/h vor, doch auch das reichte nicht für eine Mehrheit. Das Tempolimit scheiterte im Bundesrat an einer Gegenstimme.

>> Lesen Sie hier: CDU-Politiker werben für allgemeines Tempolimit auf Autobahnen

Stattdessen etablierte der Gesetzgeber eine unverbindliche Richtgeschwindigkeit von 130 km/h. „Die wurde als Tempolimit verkauft, aber hat sich als wirkungslos entpuppt“, kritisiert Philipp George vom Verein CO2-Abgabe und der Kampagne „Alle fürs Tempolimit“. George sieht Deutschland in einer Sonderrolle: In anderen Ländern, etwa in den Nachbarstaaten Frankreich und Österreich, war die Ölkrise Anlass dafür, dauerhafte Tempolimits auf Autobahnen einzuführen.

Ist ein Tempolimit gut fürs Klima?

Ein Tempolimit hilft der Umwelt mehr als bisher angenommen. Im Januar 2023 hat das Umweltbundesamt (UBA) eine neue Studie zur CO2-Einsparung durch ein Tempolimit veröffentlicht. Demnach könnte Deutschland mit einem Tempolimit von 120 km/h auf der Autobahn jährlich 6,7 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Mit einem zusätzlichen Limit von Tempo 80 auf Außerortsstraßen wären es sogar acht Millionen Tonnen. Das entspricht 4,2 Prozent der Gesamtemissionen durch Pkw und 6,7 Prozent des Ausstoßes von Nutzfahrzeugen.

In einer älteren Studie hatte das Umweltbundesamt bisher nur von 2,6 Millionen Tonnen CO2-Einsparung gesprochen. Grundlage für die neuen Berechnungen sind „Floating Car Data“, also Daten für konkrete Fahrzeugbewegungen, aus dem Jahr 2018. Dadurch konnten die Autoren nicht nur direkte Emissionsrückgänge durch langsameres Fahren berechnen, sondern etwa auch, ob Menschen bei einem Tempolimit ihre Route ändern und weniger Autobahn fahren oder ob sie aufgrund längerer Reisezeiten auf andere Verkehrsmittel umsteigen.

Laut UBA-Chef Dirk Messner könnte ein Tempolimit zwischen 2024 und 2030 ganze 47 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente einsparen. Für die gleiche Menge müssten jährlich weitere drei Millionen Verbrenner auf deutschen Straßen durch Elektrofahrzeuge ersetzt werden.

Trotzdem hat sich Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) wiederholt gegen ein Tempolimit ausgesprochen. Zugleich gerät Wissing zunehmend unter Druck, die Klimaziele der Bundesregierung für den Verkehrssektor bis 2030 zu erreichen. Im Jahr 2022 überschritt der Verkehr sein Klimaziel um elf Millionen Tonnen CO2. Um die Emissionen im Verkehr wie geplant bis 2030 zu halbieren, müssten sie 14 Mal so schnell sinken wie bisher.

Verhindert ein Tempolimit Verkehrstote?

„Es ist unumstritten, dass die Anzahl der Unfälle und damit die Anzahl der Verletzten und Getöteten durch ein Tempolimit reduziert werden“, sagt Christian Traxler von der Hertie School of Governance in Berlin. Einfache Vergleiche von Unfällen auf Strecken mit und ohne Tempolimit seien dabei wie Äpfel-Birnen-Vergleiche, so der Ökonom. Denn auf gefährlichen Strecken würden bereits jetzt niedrigere Tempolimits als auf ungefährlichen gelten.

Gegner eines Tempolimits betonen häufig, dass Autobahnen im Vergleich zum restlichen Straßennetz sehr sicher seien. Auf Autobahnen würden zwar viele tödliche, aber insgesamt im Vergleich die wenigsten Unfälle geschehen. Die Zahl der Verkehrstoten auf Autobahnen habe sich zudem seit 1995 halbiert. Trotzdem sterben laut Zahlen des Statistischen Bundesamts pro 100 Kilometer Fahrbahn weiterhin mehr Menschen auf der Autobahn als auf anderen Straßen, im Schnitt 2,7.

Im Jahr 2018 waren es 424 Getötete auf deutschen Autobahnen. Für Michael Mertens, den Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei (GdP), ist das Ziel „Vision Zero“ bei den Verkehrstoten. Ein Tempolimit könne die Zahl der Verkehrstoten um ein Drittel reduzieren und die Zahl der Schwerverletzten senken, so Mertens.

Ist man ohne Tempolimit schneller?

Ein Tempolimit führt bei Schnellfahrern zu Zeitverlusten: Wer auf einer 100 Kilometer langen Strecke mit 160 km/h statt 130 km/h fährt, spart dabei achteinhalb Minuten Zeit.

Für ernst zu nehmende Schätzungen, wie viele Stunden Zeitverlust ein Tempolimit in Deutschland mit sich brächte, fehle aktuell eine vernünftige Datenlage, erklärt Christian Traxler. Der Ökonom fordert eine stärker evidenzbasierte Verkehrspolitik. Er betont, dass ein Tempolimit auch Zeitgewinne erzielt, da durch weniger Unfälle weniger Staus entstehen.

Tempolimit 120

Auf circa 70 Prozent der Autobahnstrecken in Deutschland gibt es keine Geschwindigkeitsbegrenzungen.



(Foto: dpa)

Wer wären die Gewinner und die Verlierer eines Tempolimits?

Ein knappes Drittel der Kraftfahrzeuge in Deutschland fährt auf Strecken ohne Tempolimit schneller als 130 km/h, so die Bundesanstalt für Straßenwesen. Zwölf Prozent der Autofahrer fahren zwischen 130 und 140 km/h und weniger als zwei Prozent schneller als 160 km/h. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Diese Autofahrer gehören demnach zu den Verlierern und Verliererinnen des Tempolimits. Sie würden zwar Spritkosten sparen, aber dafür langsamer an ihr Ziel kommen. Für die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer gäbe es hingegen keine Nachteile.

Auch der gesamte Lkw-Verkehr werde bei einem Tempolimit von 130 km/h nicht beeinträchtigt. „Die Frachtbranche könnte durch ein Tempolimit nur gewinnen, denn es käme zu weniger Verzögerungen durch Staus“, sagt Christian Traxler. Er verweist auf einen „Zweitrundeneffekt“: Weniger Unfälle führen zu weniger Staus, wodurch wiederum Zeitgewinne für die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer entstehen würden, die auch bisher schon unter Richtgeschwindigkeit fahren.

Gewinner und Gewinnerinnen des Tempolimits wären all jene, die sich von den Geschwindigkeiten auf deutschen Autobahnen gestresst fühlen – und deswegen womöglich sogar das Fahren meiden. Gesundheitlich profitieren würden außerdem Millionen Menschen, die in Autobahnnähe leben und dadurch weniger Luftverschmutzung durch Stickstoffoxide, Kohlenmonoxid, organische Verbindungen und Feinstaub ausgesetzt wären.

Tempolimit: Wieso es nicht nur um CO2-Emissionen geht

„Mich stört die Fokussierung allein auf CO2-Emissionen im öffentlichen Diskurs“, sagt Traxler. „Neben den globalen CO2-Effekten gibt es viel kurzfristigere, unmittelbare positive Effekte aus der Reduktion anderer Emissionen wie Stickstoffoxide und Feinstaub.“

Knapp 40 Millionen Menschen leben Traxlers Studie zufolge in Deutschland in bis zu fünf Kilometer Nähe von Autobahnen und wären damit betroffen. Studien zufolge sei Luftverschmutzung für die Gesundheit von Kindern und Älteren besonders schädlich.

>> Lesen Sie hier: VW, BMW und Daimler rechnen schon mit einem Tempolimit

Gerade dabei, Stickoxide als gefährlich anzuerkennen, habe Deutschland schon in der Vergangenheit keine gute Figur gemacht, sagt Philipp George vom Verein CO2-Abgabe. In den 1980er-Jahren stritt die Regierung unter Helmut Kohl den Zusammenhang zwischen Stickoxidemissionen durch Fahrzeuge und dem Waldsterben ab. Die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien wurden mit einem zweifelhaften Tüv-Gutachten diskreditiert. „Das darf nicht noch mal passieren“, sagt George.

Was spricht gegen ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen?

Der ehemalige VW-Chef Herbert Diess lehnte ein Tempolimit im Gespräch mit dem Handelsblatt ab und sprach vom „Freiheitsgefühl auf deutschen Autobahnen“. Zugleich gab er zu, dass ein Tempolimit keine wirtschaftlichen Nachteile für den Konzern mit sich bringen würde: „Wir verkaufen unsere Autos auf der ganzen Welt, auch in den Ländern mit Tempolimit.“ Der Verband der Automobilindustrie spricht sich weiterhin gegen ein Tempolimit aus.

Wie schnell könnte man ein Tempolimit umsetzen?

Die rechtliche Umsetzung gilt als sehr einfach. Der Gesetzgeber müsste allein in Paragraf 3 der Straßenverkehrsordnung eine zulässige Höchstgeschwindigkeit für Autobahnen hinzufügen. Anwältin Cornelia Ziehm, spezialisiert auf Umweltrecht, hält ein Tempolimit juristisch gesehen für möglich; es sei „aus Gründen des Lebens- und Gesundheitsschutzes und des Klimaschutzes“ sogar geboten.

Das Tempolimit umzusetzen verursache praktisch keine Kosten – ein großer Vorteil für eine Klimaschutzmaßnahme im Verkehrssektor, so Philipp George vom Verein CO2-Abgabe. „Auch die FDP weiß, dass der Haushalt schon gemacht wurde und die Handlungsoptionen begrenzt sind.“

Tempolimit – wie steht es um die politischen Mehrheiten?

Während 2013 das Gros der CDU-Anhänger noch gegen ein Tempolimit plädierte, sprach sich im Juli 2022 bereits eine Mehrheit von 57 Prozent für ein befristetes Tempolimit aus. „Unter den Abgeordneten der Union sehen wir viel mehr Bewegung zu dem Thema“, erklärt George vom Verein CO2-Abgabe. Die älteren Zielgruppen der Partei stünden einem Tempolimit eher positiv gegenüber.

Theoretisch könnte ein Tempolimit über eine Gesetzesinitiative des Bundesrats eingebracht werden: Angenommen, alle Länder ohne Unions- und FDP-Beteiligung stimmten dafür, so bräuchte es nur noch eine Landesregierung mit CDU-Beteiligung, um eine absolute Mehrheit der Stimmen zu erreichen. Dann müsste der Bundestag sich mit dem Vorschlag befassen.

Ökonom Traxler von der Hertie School of Governance glaubt nicht an eine schnelle Einführung: „Ich sehe die FDP da in einer sehr starken Fundamentalopposition.“ Als Kompromiss könnte man, so sein Vorschlag, für ein Jahr auf zufällig ausgewählten Strecken ein Tempolimit einführen und die Daten als Grundlage für eine umfassende Studie verwenden. Auch Philipp George kann der Idee eines Tempolimits auf Zeit viel abgewinnen. So könnten womöglich Skeptiker und Skeptikerinnen Offenheit zeigen, ohne dabei ihr politisches Gesicht zu verlieren.

Mehr: Gutachten: Minister Wissing verstößt gegen das Klimaschutzgesetz



<< Den vollständigen Artikel: Tempolimit: Warum Deutschlands Autobahnen ein Sonderfall sind >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.

Article Categories:
Politik

Comments are closed.