Berlin Die Woche war erst wenige Stunden alt, als Karl Lauterbach (SPD) am vergangenen Montag Worte sagte, die bis heute nachhallen. Gefragt im ARD-Morgenmagazin nach Fehlern in der Coronapandemie, nannte der Gesundheitsminister die geschlossenen Schulen und Kitas. An denen aber nicht die Politik schuld gewesen sei – sondern die Wissenschaft.
„Damals war die Wissenschaft in Deutschland: Die Schulen müssen geschlossen werden, weil es dort zu Übertragungen kommt“, sagte der SPD-Politiker. Das hätten die Wissenschaftler der Bundesregierung angeraten.
Lauterbachs Aussagen sind kein Einzelfall. Immer wieder teilen namhafte SPD-Politiker gegen Wissenschaftler aus. Kurz vor Lauterbach hatte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich Sicherheitsexperten in der Panzer-Debatte abgekanzelt. Und selbst Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) fällt immer wieder mit heftiger Ökonomen-Kritik auf.
Diese Haltung zur Wissenschaft hat in der SPD eine lange Tradition. Ein Beispiel ist die Herabsetzung des Steuerrechtlers Paul Kirchhof, den der frühere SPD-Kanzler Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 2005 nur als „den Professor aus Heidelberg“ bezeichnete.
Auch der frühere SPD-Chef Sigmar Gabriel knöpfte sich regelmäßig Ökonomen vor. Kurz nach Amtsantritt als Wirtschaftsminister 2013 tauchte er einmal unangemeldet in einer Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats seines Ministeriums auf und teilte den Spitzenökonomen mit, er sehe keinen Grund, warum man das Gremium nicht sofort auflösen sollte.
Wissenschaftler reagieren empört auf die Kritik
Die SPD definiert sich bis heute als Arbeiterpartei, als Partei des „kleinen Mannes“. Angriffe auf Teile der akademischen Elite dienen deshalb der politischen Abgrenzung: Die da oben, wir hier unten. Die da in ihrem akademischen Elfenbeinturm, wir hier in der Realität. Die, die theoretisieren, wir, die echte Probleme lösen.
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Doch im postfaktischen Zeitalter, in dem Politiker wie der ehemalige US-Präsident Donald Trump wissenschaftliche Erkenntnisse infrage stellen, in einer Zeit, in der eine Pandemie offengelegt hat, wie wichtig eine wissenschaftsbasierte Politik ist, wird die Haltung der SPD zur Wissenschaft in der akademischen Welt mit noch größerem Erstaunen zur Kenntnis genommen als früher. Oder einfach nur mit Entsetzen. Wie etwa der jüngste Angriff von SPD-Fraktionschef Mützenich.
Nach der Entscheidung von Bundeskanzler Scholz, deutsche Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken, schrieb Mützenich in einem Brief an seine Fraktion, „diplomatische Verhandlungen erfolgen vertraulich, und nicht in den Medien unter Einbeziehung angeblicher Expertinnen und Experten, die sich so zahlreich in den Talkshows mit nicht immer gut gemeinten und durchdachten Ratschlägen zu Wort melden“. Und: „Jeder Zwischenruf, der ja oft allein zur Selbstdarstellung geäußert wird, muss in Moskau falsch gedeutet werden.“
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Bekannte Sicherheitsexperten wie Carlo Masala reagierten verschnupft. „Es ist das eine, wenn Mützenich uns kritisiert, aber zu behaupten, wir machen das aus Egogründen und helfen Moskau dabei, ist unter aller Kanone“, schrieb er auf Twitter.
Auch Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik zeigte sich irritiert. „Undifferenzierte“ Unterstellungen und Infragestellen von Kompetenz, nur weil Expertinnen nicht die SPD-Linie verträten, seien „ein Armutszeugnis“, erklärte sie ebenfalls auf Twitter.
Selbst der sonst so besonnene SPD-Kanzler fällt öfter aus der Rolle, wenn er auf Ökonomen zu sprechen kommt. Als namhafte Rentenexperten im Wahlkampf 2021 vorrechneten, was für ein Beitragsschock in der Rentenversicherung drohe, sagte Scholz dazu: „Die Vorschläge dieses sogenannten Expertengremiums sind falsch gerechnet und unsozial.“ Er würde sich gern mal mit „echten Experten“ über das Thema unterhalten. Einer dieser von ihm kritisierten Experten war Martin Werding, einer der fünf Wirtschaftsweisen.
Die scharfe Kritik war keineswegs dem Wahlkampf geschuldet, im Amt machte Scholz als Kanzler genauso weiter. Einen Monat nach Ausbruch des Ukrainekrieges griff er in der Fernsehsendung „Anne Will“ eine Gruppe namhafter Ökonomen an, die eine Simulation zu den Folgen eines Energieembargos berechnet hatten. Es sei „unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht funktionieren“, erklärte Scholz.
SPD verteidigt Aussagen von Scholz und Lauterbach
Die Aussagen des Kanzlers sind auch deswegen verwunderlich, weil er nach Amtsübernahme 2021 eigens einen Corona-Expertenrat mit 19 hochkarätigen Wissenschaftlern einsetzte und zuvor als Finanzminister einen Corona-Expertenrat aus Ökonomen einberufen hatte.
Wissenschaftliche Vereinigungen wollen sich zu der Kritik aus der SPD nicht äußern. So teilt die Leopoldina auf Anfrage mit: „Politische Entscheidungen oder Äußerungen von Personen kommentiert die Leopoldina grundsätzlich nicht.“
Wiebke Esdar, Chefin des SPD-Wissenschaftsforums, verteidigt die Kritik aus den eigenen Reihen: Scholz habe „fachlich begründete Kritik geübt, weil wichtige Parameter in den veröffentlichten Berechnungen“ zum Gasembargo gefehlt hätten. Mützenich hätte die einseitige Fokussierung der Panzer-Debatte kritisiert, Gesundheitsminister Lauterbach sei selbst ein ausgewiesener Wissenschaftler. „Wir als SPD nutzen die wissenschaftlichen Erkenntnisse mit großer Wertschätzung und hohem Anspruch an die wissenschaftliche Arbeit“, erklärte Esdar.
In der Wissenschaft ist die Wahrnehmung allerdings eine andere. Nach der Kritik Mützenichs schrieb Sicherheitsexperte Masala, in der Zeitenwende sei es wie in der Coronazeit: „Mal einfach Wissenschaft dumm machen, kommt ja immer gut an.“ Als Konsequenz wünschte Masala der SPD viel Spaß damit, „demnächst Eure Expertinnen für Veranstaltungen zu finden“.
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