Feb 8, 2023
66 Views
Comments Off on Erdbeben in der Türkei: Jahrtausendkatastrophe: Kritik an Erdogans Krisenmanagement wächst
0 0

Erdbeben in der Türkei: Jahrtausendkatastrophe: Kritik an Erdogans Krisenmanagement wächst

Written by Ozan Demircan

Ankara Die kleine Enite hatte Glück im Unglück. Das zweijährige Mädchen aus der südtürkischen Stadt Antakya war eingesperrt in den Trümmern eines eingestürzten Wohnhauses, bei eisigen Temperaturen. 50 Stunden nach einer Serie verheerender Erdbeben konnte sie lebend aus den Ruinen geborgen werden. Das Kind hat die Augen weit aufgerissen, als ein Helfer es aus den Ruinen in die Freiheit zieht.

„Das hast du großartig gemacht“, versucht ein weiterer Helfer sie zu beruhigen. Enite schreit und versteift ihren Körper, während sie von der Schulter des Mannes aus auf das Loch schaut, in dem sie über zwei Tage ausharren musste.

Es sind solche Momente, die Hoffnung geben. Doch es war kein Team des staatlichen Katastrophenschutzes, das Enite aus den Trümmern befreit hatte. Sondern eine Einheit der Istanbuler Feuerwehr, die dem oppositionellen Bürgermeister der Stadt untersteht.

Bei den Rettungsarbeiten im Südosten des Landes sollte es keine Rolle spielen, wer wen rettet. Doch die Türkei befindet sich aktuell im Wahlkampf. Staatschef Erdogan hatte im Januar angekündigt, die Wahlen auf den 14. Mai vorzuziehen.

Schon jetzt ist klar, dass die Erdbebenvorsorge sowie die Katastrophenhilfe im Land zum entscheidenden Wahlkampfthema werden dürften. Das könnte vor allem der Opposition nutzen.

„Eine Jahrhundertkatastrophe“: 11.000 Tote und 15 Millionen Betroffene

Eine Serie verheerender Erdbeben mit Stärken bis zu 7,8 hatte am Montag einen mindestens 300 Kilometer langen Landstreifen im Südosten der Türkei verwüstet. Auch im benachbarten Nordsyrien hatten die Beben schwerste Zerstörungen angerichtet.

Bis Mittwoch wurden insgesamt 11.000 Tote in beiden Ländern bestätigt, allein in der Türkei nach Angaben von Präsident Recep Tayyip Erdogan mehr als 8500. Es ist damit das folgenschwerste Erdbeben seit 2011, als in Japan und Gebieten im Indischen Ozean fast 20.000 Menschen umkamen.

Nach der Erdbeben-Katastrophe hat der türkische Botschafter Ahmet Basar Sen um weitere Hilfe aus Deutschland gebeten. „Das ist eine Jahrhundertkatastrophe, vielleicht eine Jahrtausendkatastrophe“, betonte der Botschafter.

Das Ausmaß der Zerstörung sei so groß, dass in zehn Provinzen annähernd 15 Millionen Menschen betroffen seien. „Wir brauchen Geldspenden und wir brauchen Sachspenden.“ 48 Stunden nach der Katastrophe waren beim Hilfswerk der deutschen Caritas bereits Spenden in Höhe von einer Million Euro eingegangen.

>>Lesen Sie hier: Versicherer unter Druck – Naturkatastrophen werden stärker und häufiger

Neben dem menschlichen Leid wird das ökonomische Ausmaß der Katastrophe immer offensichtlicher. Einerseits haben die Beben eine der am wenigsten industriell entwickelten Regionen des Landes getroffen. Auch die Touristengebiete sind weit weg und unbeschädigt.

Dennoch, die Schäden sind enorm. Eine Fläche, vergleichbar mit einem Drittel der Fläche Deutschlands, hat zwei Minuten lang heftig gebebt, gefolgt von zahlreichen weiteren Erdstößen. Tausende Gebäude sind eingestürzt, Straßen und Flughäfen zerstört.

Antakya

Menschen sind auf der Suche nach Überlebenden.



(Foto: dpa)

Die wirtschaftlichen Schäden werden auf 50 bis 100 Milliarden US-Dollar geschätzt. Seit dem Erdbeben sank der nationalen Aktienindex Bist100 um 16 Prozent, der stärkste Sturz seit Dezember 2021. Am Mittwoch entschieden die Behörden, den Börsenhandel vorläufig auszusetzen.

Der Hafen in Iskenderun ist derzeit für Schiffe nicht erreichbar, auch weil dort seit Montag ein Großbrand lodert. Die Schifffahrtsgesellschaft Cosco kündigte an, bis auf Weiteres keine Containerschiffe dorthin zu schicken.

Damit kommen zu den direkten Schäden auch sekundäre ökonomische Beeinträchtigungen, weil zum Beispiel Lieferketten unterbrochen werden und weder Hilfsgüter noch andere Produkte direkt in die Region verschifft werden können.

Experten fürchten verspätete Auszahlung der Versicherer

Auch für Versicherer wird das Erdbeben teuer. Einige türkische Versicherer hatten bereits nach einem Erdbeben im Jahr 2020 mehr Geld auszahlen müssen, als sie zuvor eingenommen hatten.

Es wird erwartet, dass der türkische Katastrophen-Versicherungspool (TCIP) zusammen mit seinen wichtigsten Rückversicherungspartnern, darunter Munich Re und Swiss Re, einen Großteil der Schäden aus diesem Erdbeben auffangen wird. TCIP ist eine öffentliche Einrichtung, die im Jahr 2000 mit einer Rückstellung zur Regulierung von Katastrophenversicherungsansprüchen von bis zu 2,5 Milliarden US-Dollar gegründet wurde.

In der Türkei sind nach Angaben des Analysehauses Global Data Häuser im Wert von 2,9 Milliarden US-Dollar versichert. Doch die hohe Inflation im Land hat die Kalkulation vieler Versicherer durcheinandergebracht. Sie müssen mehr ausgeben, als sie eingenommen haben. Mehr noch, die Überlebenden müssen deutlich mehr für neue Häuser, Möbel und Autos ausgeben, als ihre Versicherung ihnen auszahlen dürfte.

Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze

Zahlreiche Menschen werden weiterhin vermisst.


(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

„Es wird Jahre dauern, bis die türkischen Versicherer die versicherten Schäden beglichen haben“, meint Shabbir Ansari, Versicherungsanalyst bei Global Data. Und wenn dann auch noch nach dem Unglück die Überlebenden zu lange auf ihr Geld warten müssen, dann werden in einem Land wie der Türkei schnell die Schuldigen in der Politik gesucht.

Es sind daher auch die ökonomischen Nachfolgen, die Staatschef Erdogan auch noch nach dem Beben kurz vor den Wahlen im Mai das Leben schwer machen werden.

Erdogan selbst gewann die Wahlen im Jahr 2002, nachdem die Vorgängerregierung nach einem Beben schlechtes Katastrophenmanagement betrieben hatte. Jetzt wird der türkische Präsident selbst daran gemessen, wie gut er auf die Katastrophe reagiert.

Anders als die Koalitionsregierung von 1999, die nach dem damaligen Erdbeben ständig versuchte, die Opferzahlen herunterzuspielen, kündigte Erdogan bereits kurz nach dem Beben an, dass er nicht wisse, wie hoch die Opferzahl noch steigen werde. Regierungsbeamte sagten voraus, dass sie noch deutlich ansteigen würde.

Der türkische Oppositionsführer hat Präsident Erdogan nach dem schweren Erdbeben Versagen vorgeworfen. „Wenn jemand hauptverantwortlich für diesen Verlauf ist, dann ist es Erdogan“, sagte Kemal Kilicdaroglu, Chef der größten Oppositionspartei CHP, in einem über vier Minuten langen Video, das er am frühen Mittwochmorgen auf Twitter teilte.

>> Lesen Sie hier: „Prepping“ in Fernost – Wie Japan den Katastrophenschutz plant

Erdogan habe es versäumt, das Land in seiner 20-jährigen Regierungszeit auf solch ein Beben vorzubereiten, kritisierte Kilicdaroglu. Er warf Erdogan zudem vor, die Erdbebensteuer, die für die Vorsorge gedacht ist, verschwendet zu haben.

Einige der Vorwürfe sind zwar übertrieben. So hat der türkische Staat nach Einführung einer Erdbebensteuer vor gut 20 Jahren seitdem rund 81 Milliarden Türkische Lira damit eingenommen. Allein im vergangenen Jahr lag das Budget für Erdbebenschutz laut Regierungshaushalt bei rund 100 Milliarden Lira.

Erdbebenkatastrophe in Türkei

Nach den schweren Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet ist die Situation trotz anlaufender Hilfe dramatisch.



(Foto: dpa)

Gleich nach dem Erdbeben stellte die Administration in Ankara am Montag zudem weitere 100 Milliarden Lira als Soforthilfe bereit. Der Staat hat also vermutlich über die vergangenen zwei Jahrzehnte sehr wohl das Geld für den Erdbebenschutz ausgegeben. Eine Frage wird allerdings immer häufiger gestellt: Hat das gereicht?

Einige Experten stimmen dem Oppositionspolitiker Kilicdaroglu zu. Der Geologe Naci Görür etwa behauptete im türkischen Fernsehen, staatliche Stellen hätten seine Warnungen über ein bevorstehendes schweres Erdbeben überhört. Als es dann kam, habe er lange geweint, erzählte der 76-Jährige, weil niemand zuvor auf ihn gehört habe.

Katastrophenhilfe: Präsident Erdogan räumt Probleme ein

Am Mittwoch hatte der türkische Präsident dann auch Probleme bei den Hilfsmaßnahmen eingeräumt. Es habe einige Schwierigkeiten bei der ersten Krisenreaktion gegeben, sagt Erdogan bei einem Besuch im Katastrophengebiet in der Provinz Kahramanmaras im Süden des Landes.

Es habe Probleme mit den Straßen und Flughäfen gegeben, dies alles werde aber von Tag zu Tag besser. Nun seien die Abläufe wieder normal, sagt Erdogan angesichts von Klagen aus der Bevölkerung über mangelnde Hilfsressourcen und eine zu langsame Reaktion der Behörden.

Für den türkischen Präsidenten werden die Erdbeben vom Montag dadurch nicht nur zur humanitären Herausforderung. Er muss, ob er will oder nicht, an die Wahlen im Mai denken. Dabei lief es zuletzt gut für ihn. Nach einer Hängepartie in den Umfragen gegen mögliche Gegenkandidaten hatte Erdogan aufgeholt. Seine außenpolitischen Erfolge konnte er gut für sich nutzen.

>> Lesen Sie hier: Türkische Börse setzt Handel nach Erdbeben aus

Wahlgeschenke wie eine Amnestie bei Bußgeldern und ein Wohnungsbauprogramm machten ihn in der immer wichtiger werdenden Mittelschicht. Dass die Opposition sich bis dato immer noch nicht auf einen Präsidentschaftskandidaten geeinigt hatte, konnte Erdogan gut in eine Strategie ummünzen, in der er sich als Macher positionierte.

„Eine effektive Notfallreaktion kann den AKP-Führer und seine Partei sogar stärken, indem sie ein Gefühl nationaler Solidarität unter Erdogans Führung auslöst“, analysiert Wolfango Piccoli vom Beratungshaus Teneo.

Doch jetzt wird die Kritik an Erdogan immer lauter. Oppositionschef Kilicdaroglu, der seit über einem Jahrzehnt Erdogan stürzen will, erzeugt im Gegenzug medienwirksam das Narrativ, demzufolge die Regierung beim Katastrophenschutz nichts auf die Reihe bekommt. In sozialen Medien sieht man, wie Feuerwehreinheiten der oppositionellen Städte aus Istanbul oder Ankara Kinder retten, Häfen reparieren und die Landebahnen der zerstörten Flughäfen begradigen.

Mehr Beiträge zum Thema Türkei und Syrien:

Es ist erstaunlich, was der Staat sowie politische und private, inländische und ausländische Helferinnen und Helfer in den ersten Stunden nach der Katastrophe auf die Beine gestellt haben. Auf einem Gebiet, das mit der Distanz zwischen Köln und Nürnberg verglichen werden.

Doch das Narrativ über die Rettungsmaßnahmen ist längst auf die Seite der Kritiker umgeschwenkt. Erdogan, der solche Spannungen in der Gesellschaft schnell spürt und einst gut für sich zu gewinnen wusste, steht nun mit dem Rücken zur Wand.

Er will im Mai unbedingt wiedergewählt werden, koste es was es wolle. Bei seinem Auftritt am Mittwoch versprach er Hilfe für obdachlos geworden Menschen und den Neubau von Häusern innerhalb eines Jahres. Gleichzeitig rief er dazu auf, nur auf Anweisungen der Behörden zu hören und nicht etwa auf „Provokateure“. Ein klarer Seitenhieb gegen Kilicdaroglu und andere Kritiker– und ein Ausblick darauf, dass das Erdbeben zum entscheidenden Faktor im Wahlkampf werden könnte.

Mehr: Wie das Erdbeben dem syrischen Machthaber helfen könnte.



<< Den vollständigen Artikel: Erdbeben in der Türkei: Jahrtausendkatastrophe: Kritik an Erdogans Krisenmanagement wächst >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.

Article Categories:
Politik

Comments are closed.