Berlin Am Dienstag schreckte eine Nachricht aus Niedersachsen Bildungspolitiker, Eltern und Lehrer auf: Eine Grundschule-Leiterin im Ammerland verkündete, sie müsse für mehr als 300 Schülerinnen und Schüler ab sofort die Vier-Tage-Woche einführen, weil sie nicht genug Lehrkräfte habe.
Der Fall macht klar, wie groß die Not bundesweit ist: Der Lehrermangel in Deutschland hat dramatische Ausmaße angenommen. Wenn nicht schnell etwas passiert, wird er Experten zufolge die nächsten 20 Jahre die Arbeit der Schulen bedrohen.
Sachsen-Anhalt hat bereits die Wende eingeleitet: Dort beschloss das Kabinett unter Reiner Haseloff (CDU) im Januar, dass Lehrkräfte demnächst eine Stunde pro Woche mehr arbeiten sollen.
Das Thema trifft alle: Allein nach den Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK) – die sich schon mehrfach als zu niedrig erwiesen – fehlen bis 2025 rund 25.000 Lehrkräfte. Andere Prognosen gehen von 40.000 fehlenden Lehrerinnen und Lehrern bis 2025 und 85.000 bis 2035 oder sogar von 70.000 und 156.000 fehlenden Lehrkräften aus.
Die Zahlen gehen zurück auf den Bildungswissenschaftler Klaus Klemm und Berechnungen für den INSM-Bildungsmonitor. Dazu kommt Unerwartetes, etwa der Ukrainekrieg. So wurden seit Ausbruch des Kriegs in der Ukraine mehr als 200.000 Schüler und Schülerinnen zusätzlich aufgenommen, die ebenfalls Lehrkräfte brauchen.
Besonders groß ist die Lücke ausgerechnet in den sogenannten Mint-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik): So wird etwa allein in Nordrhein-Westfalen die Versorgung mit Biologie-Lehrkräften bis 2030/31 nur zu 39 Prozent, in Mathematik zu 37 Prozent, in Chemie zu 26 Prozent, in Physik zu 18 Prozent, in Informatik zu 4,6 Prozent und in Technik nur zu 3,6 Prozent gedeckt, ergab eine Studie im Auftrag der Telekom-Stiftung.
Ein Fünftel aller Schüler bleibt ohne Mindestkenntnisse für das Berufsleben
Die hilflosen Kultusminister, die die Misere viele Jahre kleinrechneten, nicht für genügend Lehramtsstudienplätze sorgten und keine Gegenstrategie fanden, beauftragten zuletzt ihre neuen wissenschaftlichen Berater mit der Suche nach Rettung. Und die Ständige Wissenschaftskommission (SWK) fand deutliche Worte: Deutschland stehe für die kommenden 20 Jahren vor einer „historischen Herausforderung“, teilte das Gremium unter Leitung der renommierten Bildungsforscher Olaf Köller und Felicitas Thiel mit.
Nötig seien daher zeitlich befristete „Notmaßnahmen“: Diese reichen laut den Experten von weniger Teilzeit über größere Klassen bis hin zu Mehrarbeit. Sollten die Schulminister nur einen Teil umsetzen, dürfte allerdings massiver Widerstand der Lehrkräfte zu erwarten sein.
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Doch, so mahnen die Wissenschaftler, schließlich müsse allen Akteuren im Schulsystem klar sein, dass die Misere „größte Anstrengungen erfordert“, um den kommenden Generationen von Schülern ein Unterrichtsangebot zu machen, „das ihnen soziale, kulturelle, gesellschaftliche und berufliche Teilhabe ermöglicht“. Schon jetzt verlasse ein Fünftel die Schule ohne die nötigen Mindestkenntnisse fürs Berufsleben.
Kaum war das Gutachten veröffentlicht, schäumte vor allem die GEW, die Misere sei von der Politik verursacht, daher dürfe sie diese nun „nicht auf dem Rücken der Lehrkräfte austragen“. Die Empfehlungen der SWK würden „die ohnehin überlasteten Lehrkräfte nur zusätzlich belasten“, wetterte ihre Vorsitzende Maike Finnern. Es drohe „eine Spirale aus Überlastung durch Lehrkräftemangel und Lehrkräftemangel durch Überlastung“, die zu Abwanderung aus dem Beruf führen werde.
Auch der Philologenverband der Gymnasiallehrer warnte die Politik vor einer „Erhöhung des Drucks“. Der werde „zu mehr statt weniger Unterrichtsausfall führen, weil immer mehr Kolleginnen und Kollegen einfach nicht mehr können“, sagte die Bundesvorsitzende Susanne Lin-Klitzing.
40 Prozent der Lehrkräfte arbeiten Teilzeit – der höchste Stand seit zehn Jahren
Das größte Potenzial, Ressourcen zu erschließen, sieht die SWK in einer Senkung der enorm hohen Teilzeitquote. 2021/22 arbeiteten gut 40 Prozent der rund 709.000 Lehrkräfte Teilzeit – das ist der höchste Stand in den vergangenen zehn Jahren. Unter allen Beschäftigten in Deutschland beträgt die Quote nur 29,9 Prozent.
Hauptursache ist der hohe Frauenanteil, die 73 Prozent der Lehrerschaft stellen. Von ihnen arbeitet fast jede zweite Teilzeit, im Westen sind die Anteile noch höher. Die KMK-Berater drängen daher darauf, die Möglichkeit zur Teilzeitarbeit zu begrenzen. Vor allem eine Reduktion auf unter 50 Prozent sollte nur noch aus besonderen Gründen, etwa bei kleinen Kindern, möglich sein, auch Sabbaticals sollten eingeschränkt werden.
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Die Klassengröße soll zudem – abgesehen von der Grundschule – kein Tabu mehr sein: Zunächst müssten die Obergrenzen ausgeschöpft werden, fordert die SWK. Wenn das nicht reiche, „darf in der Sekundarstufe I auch eine befristete Erhöhung der maximalen Klassenfrequenz nicht ausgeschlossen werden“.
Diese liegt aktuell je nach Land und Schulart bei bis zu 31 Schülern. Im Schnitt sitzen in den Grundschulen 21 Kinder in einer Klasse, in der Sekundarstufe I sind es 24 und damit weniger als noch 2005. Natürlich sehen Lehrkräfte große Klassen als Belastung – die Forschung zeige jedoch, „dass Effekte der Klassengröße auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler eher gering sind“, stellen die Gutachter klar.
Daneben empfehlen sie, Überstunden zu bezahlen, das Recht älterer Lehrer, ihre Unterrichtszeit zu senken, einzuschränken und möglichst viele aus dem Ruhestand zurückzuholen.
Während diese Vorschläge in der Lehrerschaft umstritten sind, gibt es weitgehend Einigkeit bei dem Rat der Experten, Lehrer von Zusatzaufgaben wie Bürokratie, der Betreuung der IT oder auch schlicht der Korrektur von Klassenarbeiten zu entlasten. Dazu kommt die Anregung, in der Oberstufe einen Teil des Unterrichts auch nach der Pandemie digital und mit Selbstlernen zu organisieren.
Vor den umstrittenen Notfallmaßnahmen scheinen die Kultusminister allerdings zurückzuschrecken, auch aus Angst, noch mehr Lehrkräfte zu verlieren: Der Katalog sei ja nur „ein Vorschlag aus wissenschaftlicher Sicht, den wir zunächst mit der Schulrealität rückkoppeln müssen“, sagte die amtierende KMK-Vorsitzende, Berlins Schulsenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD).
Die Lehrerschaft sei durch Pandemie und andere Krisen „besonders gefordert“, und „Ad-hoc-Maßnahmen dürfen nicht dazu führen, dass sie verunsichert wird“. Die Politik müsse schließlich „den Bestand sichern und pflegen“, da die künftige Attraktivität pädagogischer Berufe „auch von den Maßnahmen abhängt, die wir jetzt ergreifen“.
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