Kahramanmaras, Kırıkhan Ibrahim hatte Glück, weil er sein Telefon bei sich hatte. Der junge Mann wurde verschüttet, als das Erdbeben sein Haus und insgesamt mindestens 6000 weitere Gebäude der Stadt Kahramanmaras im Südosten der Türkei in Schutt und Asche legte. Er überlebte wie durch ein Wunder in einem Hohlraum zwischen den Trümmern, fand sein Handy, hatte Empfang und rief seinen Freund an. Mehr als 100 Stunden später konnten ihn Rettungskräfte aus den Trümmern befreien.
Andere hatten weniger Glück als Ibrahim. Nach bisherigen Schätzungen kamen in der Türkei mindestens 20.000 Menschen bei der Jahrhundertkatastrophe ums Leben, in Syrien weitere rund 3400.
„Die Schäden sind gewaltig, und die Not der Menschen ist es auch“, berichtet Markus Bremers, der für das deutsche Medikamenten-Hilfswerk action medeor vor Ort ist. „Tausende haben ihre Wohnungen verloren und können nicht mehr in ihre Häuser, viele von ihnen verbringen die Nacht im Freien aus Angst davor, bei einem Nachbeben verschüttet zu werden.“
Das betroffene Gebiet ist fast so groß wie Deutschland, der Wiederaufbau wird Jahre dauern und Milliarden kosten. Nach vier Tagen deutet sich aber auch an: Die finanziellen Schäden werden für die türkische Volkswirtschaft beherrschbar bleiben – und der Termin für die Präsidentschaftswahl im Mai scheint nicht gefährdet.
Inzwischen ist eine gewaltige Maschinerie an Hilfsangeboten vor allem in der Südtürkei angelaufen. Schon auf dem Weg in die Region bildeten sich Staus von Autos und Transportern, die Hilfsgüter in die Region bringen wollen.
Eine Gruppe aus dem Touristenort Mahmutlar bei Antalya, gut 500 Kilometer vom Krisengebiet entfernt, lädt Decken, Kleidung und alte Teppiche aus einem Transporter. Sie sind bestimmt für jene, die ihre Wohnungen verloren haben und nun in Zelten untergekommen sind. „Wir haben nicht lange überlegt und sofort Sachspenden gesammelt“, erklärt Murat, der Fahrer der Gruppe. Andere sind gleich mit einem Sattelschlepper gekommen, darauf ein Bagger, der bei den Aufräumarbeiten helfen soll.
Im Krisengebiet selbst zeichnet sich ein unterschiedliches Bild ab. In Kırıkhan in der Provinz Hatay steht fast kein Haus mehr. Hier hat sich das Technische Hilfswerk (THW) aus Deutschland niedergelassen, um Verschüttete aus Trümmern zu befreien. „Die ersten Stunden sind immer die kritischsten“, sagt Anton Hünnemeyer-Weber, der für das THW in Kırıkhan Such- und Rettungseinsätze koordiniert. Das THW ist auf Katastrophen wie Erdbeben spezialisiert. Die Herausforderungen seien enorm. „Das Gebiet ist sehr groß und die Zerstörung außergewöhnlich“, sagt Hünnemeyer-Weber.
Bei den Einsätzen in zerstörten Häusern suchen die Spezialisten zunächst mithilfe von Spürhunden nach Überlebenden. Wenn die Tiere anschlagen, wird mit einer Kamera überprüft, ob der Verschüttete noch lebt. Anschließend beurteilt ein Team von Bauexperten, ob bei der Bergung weitere Trümmer in Bewegung gesetzt werden könnten, die das Leben des Verschütteten gefährden könnten.
Auch Mediziner sind an diesem Prozess beteiligt. „Es kann vorkommen, dass das Erdbebenopfer während der Befreiung verletzt wird.“ Wenn es gut aussieht, wird zunächst ein kleiner Tunnel gegraben, um die Person mit dem Nötigsten zu versorgen. „So gelingt es uns, Menschen auch unter schwierigen Bedingungen und hohem Zeitaufwand noch dann zu befreien, wenn sie ansonsten verdurstet wären“, erläutert Hünnemeyer-Weber. Normalerweise können Menschen circa drei Tage ohne Wasser überleben. Mit dem Tunnel können sie versorgt werden, bis sie endgültig gerettet werden können.
In Kırıkhan konnten die THW-Helfer sowie eine deutsche Gruppe der Hilfsorganisation Isar mehrere Menschen lebend bergen. An der aufkommenden Kritik am türkischen Krisenmanagement will sich THW-Einsatzleiter Jörg Eger nicht beteiligen. „Das gesamte Einsatzgebiet für die Hilfskräfte ist fast so groß wie Deutschland, die Zerstörung durch zwei heftige Beben enorm“, erklärt er. „Es ist schier unmöglich, gleich in den ersten Stunden überall zu sein.“
Während Kırıkhan fast ganz zerstört ist, ist im zehn Kilometer entfernten Hassa dagegen kein einziges Haus eingestürzt. Gelegentlich findet man einen Riss in der Hauptstraße. Die Supermärkte haben geöffnet.
Auch in anderen Teilen der Region sind die Schäden überschaubar geblieben. Ein Feuer im Hafen der Küstenstadt Iskenderun ist unter Kontrolle, die Hafenterminals sind von Schutt befreit worden. Die Tankstellen in der Region blieben größtenteils unbeschädigt und sind geöffnet. Windräder auf den Hügeln der Provinz Hatay drehen sich, als hätte es kein Erdbeben gegeben.
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Die finanziellen Schäden dürften daher überschaubar bleiben, schätzen Experten. Das betroffene Gebiet ist groß, aber nicht die industrielle Herzkammer des Landes. Auch die Touristenregionen am Mittelmeer sind weit entfernt und nicht betroffen.
Die Ratingagentur Fitch kommentiert, dass trotz des unmessbaren menschlichen Leids die finanziellen Schäden in einem Rahmen von zwei bis vier Milliarden Dollar liegen dürften. Zum Vergleich: Hurrikan Ian verursachte im Oktober vergangenen Jahres in den USA Schäden in Höhe von 100 Milliarden Dollar.
Die meisten Fabriken in der Region haben die Beben unbeschadet überstanden, und damit bleiben auch viele Jobs erhalten. Und das ist wiederum wichtig für einen, der die Situation ganz genau beobachtet: Recep Tayyip Erdogan. Der türkische Staatspräsident muss den Wiederaufbau koordinieren. Aber er dürfte dabei auch die Wahlen im Mai im Blick haben.
Vereinzelt waren Befürchtungen aufgekommen, die Zerstörungen seien so groß, dass die Wahlen verschoben werden müssten. Danach sieht es zum jetzigen Zeitpunkt nicht aus, wenn man berücksichtigt, wie schnell Straßen freigeräumt und wichtige Infrastruktur repariert worden sind.
Die Erdbeben sind verheerend und eine menschliche Tragödie. Aber es sieht so aus, als habe der Wiederaufbau begonnen.
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