Feb 13, 2023
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Erdbeben: Kaum internationale Hilfe: „Die Syrer durchleben diese schwierigen Tage allein“

Written by Moawia Atrash


Idlib, Reyhanli Das Erdbeben überraschte Ahmed Al-Halabi im Schlaf: Im Morgengrauen des 6. Februar stürzte sein Haus ein, begrub seine Frau, seinen Sohn und ihn unter Trümmern. Zwei Tage harrte die Familie dort aus, zwischen Leben und Tod, dann wurde sie von Helfern geborgen. „Nachdem sie uns rausgeholt hatten, starb mein Sohn“, sagt Ahmed Al-Halabi, der nun in einer Klinik im nordsyrischen Idlib versorgt wird. Seine Füße sind gebrochen, eine Hand auch. „Ich habe solche Schmerzen, dass ich nicht einmal zur Beerdigung meines Sohnes gehen konnte“, sagt der 28-Jährige.

Bereits 100 Stunden nach dem katastrophalen Erdbeben der Stärke 7,8 zählten die Kräfte des syrischen Zivilschutzes, die Weißhelme, in mehr als 40 Städten und Dörfern 2166 Tote. Inzwischen sind es im ganzen Land mehr als 4300. Mancherorts werden die Verstorbenen in Leichentüchern vergraben, ein Stück Holz dient als Grabstein. Es ist kalt in der gebirgigen Region Nordwestsyriens, auf den Hängen liegt noch der Schnee. Viele Straßen sind nicht asphaltiert, im Matsch des geschmolzenen Schnees haben es die Menschen mit ihren alten Autos und Pickups schwer, den Hügel hinaufzufahren.

In der Türkei und in Syrien hat die Erdbebenserie Verwüstungen hinterlassen, wie man sie sonst nur von Kriegen kennt. In Nordwestsyrien kennt man die Szenerien aus dem Bürgerkrieg, der das Land seit 12 Jahren erschüttert: die Häuser zerstört, die Menschen vertrieben, die Hoffnung verloren.

In Syrien etwa sind UN-Angaben zufolge viele Menschen, die wegen des Kriegs innerhalb des Landes vertrieben worden waren, in baufälligen Unterkünften untergekommen. Nach den Beben haben sie nun auch noch diese verloren – und das bei eisigen Temperaturen. „Die Betroffenen brauchen dringend Unterstützung“, konstatiert Chris Melzer vom UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR.

Allein in der von den Beben betroffenen Region leben mehr als vier Millionen Menschen. Die Hilfsorganisation Caritas rechnet damit, dass viele der syrischen Binnenflüchtlinge nun versuchen könnten, zu Verwandten nach Deutschland zu reisen – und das in einer Zeit, in der die EU womöglich ihre Asyl- und Migrationspolitik ein weiteres Mal verschärfen will.

„Wir hätten viel mehr Menschen retten können“

Anders als auf der türkischen Seite kommen weitaus weniger internationale Hilfsgüter in die Region. „Seit dem ersten Beben haben wir Hilfsanfragen an verschiedene Länder und Weltorganisationen, einschließlich der UN, gesandt, um so viele Menschen wie möglich unter den Trümmern zu retten“, sagte Fatima Obeid, eine 26-jährige alte Freiwillige der Weißhelme.

Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen. UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths

„Die Situation ist unerträglich bis katastrophal. Seit 12 Jahren haben wir hier Krieg, und jetzt leidet das syrische Volk in dieser Region auch noch schwer an den Folgen des Erdbebens.“ Teilweise seien ganze Familien unter den Trümmern begraben.

„Wir hätten viel mehr Menschen retten können, wenn wir die Technologie und die schweren Maschinen hätten, die zum Heben von Trümmern erforderlich sind“, sagt sie dem Fernsehsender Al-Jazeera. „Alle Hilfsgüter und notwendigen Lebensmittel, die den überfüllten Hilfszentren zur Verfügung gestellt werden, werden von Freiwilligen, Zivilorganisationen und Wohltätigkeitsorganisationen vor Ort gespendet.“

Von den Vereinten Nationen und ihren Mitgliedsstaaten kam lange nichts. Nach der Katastrophe haben die Vereinten Nationen dann auch Versäumnisse eingeräumt. „Wir haben die Menschen im Nordwesten Syriens bisher im Stich gelassen“, sagte der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Sonntag während eines Besuchs in der syrisch-türkischen Grenzregion.

Syrische Regierung erlaubt Lieferungen in Rebellen-Gebiete

Diese Menschen hätten das Gefühl, man habe sie aufgegeben. „Sie halten Ausschau nach internationaler Hilfe, die nicht eingetroffen ist.“ Es sei seine Pflicht, diese Fehler so schnell wie möglich korrigieren zu lassen, erklärte Griffiths.

In der Türkei ist längst eine internationale Maschinerie professioneller Katastrophenhilfe angelaufen. Helferinnen und Helfer aus 96 Staaten haben Hilfe angeboten. Sie helfen, Lebende unter Trümmern zu bergen, Zelte aufzubauen, Verletzte zu versorgen oder Suppe zu kochen. „Wir sind traumatisiert“, sagt die 22-jährige Dilek aus der türkischen Grenzstadt Antakya, „aber immerhin bekommen wir alles, was wir benötigen“.

Verglichen dazu werden die Millionen Syrerinnen und Syrer, die ebenfalls von der Erdbebenserie betroffen sind, im Ausland fast vergessen. Die syrische Regierung gab am Freitag bekannt, dass sie die Lieferung humanitärer Hilfe in vom Erdbeben betroffene Gebiete außerhalb ihrer Kontrolle genehmigt hat.

Ein UN-Sprecher sagte jedoch am Sonntag, dass die Erdbebenhilfe aus von der Regierung gehaltenen Teilen Syriens in das nordwestliche Territorium durch „Genehmigungsprobleme“ mit der bewaffneten Gruppe Hay’et Tahrir al-Sham (HTS) aufgehalten worden sei.

Die erste Lieferung von UN-Hilfsgütern kam am Donnerstag in Nordsyrien an – und damit drei Tage nach der Erdbebenkatastrophe. Am Freitag folgte ein weiterer Konvoi mit 14 Lastwagen unter anderem mit Material für Unterkünfte wie Zelte. Am Samstag überquerten dort 22 weitere Lastwagen die türkisch-syrische Grenze mit Gütern unter anderem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem UN-Kinderhilfswerk Unicef.

Irakische Soldaten bereiten die Lieferung von Hilfsgütern in die Erdbebenregionen vor

Nach Angaben der Vereinten Nationen stocken die Lieferungen in die Gebiete, die nicht von der Regierung gehalten werden.


(Foto: AP)

Alle müssen über den einzigen geöffneten Grenzübergang im türkischen Reyhanli nach Syrien fahren. Ein Nadelöhr, denn die angrenze türkische Region ist ebenfalls stark vom Erdbeben betroffen. Überall staut sich dort der Verkehr, es ist nicht leicht, bis zur Grenze zu kommen.

Laut Raed al-Saleh, Leiter der syrischen Zivilverteidigung, transportierten die beiden Konvois, die am Donnerstag und Freitag durchfuhren – insgesamt 20 Lastwagen – außerdem lediglich „planmäßige Hilfe“, die regelmäßig an Flüchtlingsfamilien geliefert wird und Zucker, Mehl und Speiseöl enthält. Aber keine Decken, Zelte oder Medizin. „Das war keine Hilfe für die Familien und Menschen in den Städten, die sich im Katastrophengebiet des Bebens befanden“, sagte er am Samstag.

Treibstoff für die Bergungsgeräte fehlt

Die Retter mussten in weitläufigen Gebiet mit vielen Schwierigkeiten kämpfen. Zum einen fehlte der Treibstoff, um die großen Geräte zur Bergung über eine so lange Zeit zu betreiben. Auch fehlte technische Ausrüstung, etwa Wärmesensoren und -kameras. Fehlende internationale Hilfe erschwerte die Rettung der verschütteten Menschen.

Es gibt Hilfsorganisationen vor Ort, auch ausländische. Malteser International etwa, das internationale Hilfswerk des Malteserordens, unterstützt sechs Krankenhäuser in der Region, darüber hinaus eine Geburtsklinik mit Kinderkrankenhaus sowie acht Basisgesundheitsstationen in den Regionen Idlib sowie in Nord-Aleppo in Nordwestsyrien. 

„Die Krankenhäuser, die wir in Nordwestsyrien unterstützen, sind zum Glück nur leicht beschädigt und voll einsatzfähig“, erklärt Oliver Hochedez, Leiter der Nothilfe bei Malteser International, „aber es fehlt an medizinischem Verbrauchsmaterial, Erste-Hilfe-Kästen, Trauma-Kits und Medikamenten“. Die Ärztinnen und Ärzte in den von der Organisation unterstützten Krankenhäusern arbeiteten seit Montagmorgen am Limit, heißt es. „Schon vor dem Beben war die Gesundheitsversorgung für die Menschen in der Region kaum zu stemmen“, berichtet Hochedez, der die Hilfe mit seinem Team von der türkischen Grenzstadt Kilis aus koordiniert. „Nun kommen die vielen Verletzten hinzu. Seit dem Erdbeben wurden hundert zusätzliche Operationen durchgeführt.“

Der Bedarf an medizinischer Versorgung sei immens. Benötigt werden zudem orthopädische Hilfsmittel für die vielen Verletzten. „Wir arbeiten mit Hochdruck daran, die benötigten Güter schnellstmöglich zu beschaffen. In Syrien ist dies noch über die lokalen Märkte möglich“, so Hochedez. 

„Wir wissen nicht, was wir jetzt tun können“, sagt Abdul Rahman Jadoua. Der 50-Jährige, der ursprünglich aus einem Dorf südlich von Aleppo stammt, hat seine Frau verloren. Sie hatte ihn geweckt, als die Erde bebte. Als sie aus dem Haus liefen, stürzte es ein. „Das Haus fiel auf unsere Köpfe“, sagt Jadoua. Fünf Stunden steckten sie im Schutt. Er und seine Kinder überlebten, seine Frau starb.

Auf Panik, Angst und Trauer folgt die Enttäuschung

Jetzt lebt und schläft der Syrer mit seinen Kindern in der Stadt Salqin westlich von Idlib trotz der Kälte unter Bäumen. Es gibt keine Notunterkünfte. „Wir warten auf eine Hilfsorganisation, die kommt und uns ein Dach über dem Kopf gibt“, sagt Jadoua. Die Vereinten Nationen schätzen, dass allein in Syrien bis zu 5,3 Millionen Menschen obdachlos geworden sind.

Zerstörungen im nordsyrischen Jandaris

Tausende Gebäude im Nordwesten Syriens sind bei den Erdbeben beschädigt worden.



(Foto: Reuters)

Auch die syrischen Flüchtlinge auf der türkischen Seite der Grenze haben es schwer. Nicht nur, weil die meisten der rund vier Millionen Schutzsuchenden im Grenzgebiet und damit in der am schwersten von den Erdbeben getroffenen Region leben. Sondern vor allem auch, weil sie zum Sündenbock für vieles gemacht werden, was dort gerade passiert.

Etwa, nachdem Plünderungen in Supermärkten und Häusern bekannt wurden. Auf Twitter beschwerten sich viele darüber, dass vor allem syrische Banden abends durch die Dörfer zögen und Menschen bedrohten. Woher die Flüchtlinge auf einmal die Waffen haben könnten, ist unklar.

Besondere Aufmerksamkeit erregte ein Tweet des extremistischen Oppositionspolitikers Ümit Özdag. Auf einem von ihm geteilten Foto sieht man einen jungen Mann in blauer Jacke mit einem roten Handy, neben ihm steht ein Helfer. Özdags Kommentar: „Der syrische Junge klaut einem türkischen Helfer das Handy und das Fernsehen nimmt es live auf.“ Tausende teilten den Tweet und nahmen Özdags Kommentar offenbar für bare Münze. Allein, der Junge ist Türke, und er bewies später im Fernsehen, dass es sich um sein eigenes Handy gehandelt habe.

Mehr Handelsblatt-Artikel zum Erdbeben in Syrien und der Türkei:

Diesseits der Grenze, in der syrischen Region Idlib, bergen die Helfer des Zivilschutzes inzwischen kaum noch Überlebende. Den Verschütteten habe die Kälte zugesetzt und die Entzündungen ihrer Wunden, berichtet der Zivilschutz. „Zudem stürzten während unserer Rettungen durch die Nachbeben viele weitere Gebäude ein.“ Fast 500 Wohnhäuser wurden komplett zerstört, mehr als 1400 teilweise.

„Die Lage wird angespannt bleiben“, erklärt Malteser-Nothilfeleiter Hochedez. „Es gibt Bedarf in allen Bereichen und die Hilfe muss nach der Rettung in eine neue Phase übergehen“, meint er. „Feste Unterkünfte müssen kommen, die medizinische Hilfe muss ausgebaut werden.“

Auch die 40 Jahre alte Heba Al-Ali ist obdachlos. Nachdem in ihrem Dorf Al-Taloul westlich von Idlib zuerst fast alle Häuser durch das Beben zerstört wurden, wurde es zusätzlich noch überschwemmt. Das Beben hatte die Dämme zerstört, die zuvor vor dem Wasser des Flusses Orontes geschützt hatten. „Wir mussten aus unserem Dorf flüchten. Jetzt haben wir kein Zuhause mehr.“

Moawia Atrash ist freier Journalist aus dem syrischen Idlib. Er hat bei dem Erdbeben selbst eine Tante verloren.

Mehr: Das türkische Erdbebengebiet zwischen Nothilfe und Schadensbilanz



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