Brüssel Zehn Monate sind keine lange Zeit in der Politik, schon gar nicht in Brüssel. So viel Zeit bleibt den Europäern, um ihre Fiskalregeln an die Nach-Corona-Realität anzupassen. Bis zum Jahresende muss eine Reform her, sonst tritt der Stabilitäts- und Wachstumspakt in unveränderter Form wieder in Kraft. Das würde für mehrere hochverschuldete Mitgliedstaaten einen scharfen Sparkurs bedeuten, der die EU doch noch in eine Rezession stürzen könnte.
EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni mahnte daher beim Finanzministertreffen am Dienstag zur Eile. „Wir müssen Fortschritte erzielen“, sagte er. „Die Zeit ist nicht unbegrenzt.“ Bis zum EU-Gipfel im März müssten die Regierungen sich einigen, damit die Kommission wie geplant im Frühjahr einen Gesetzesvorschlag vorlegen könne. Das Europaparlament müsse die Reform schließlich auch noch absegnen.
Der Stabilitätspakt schreibt vor, wie viel Schulden die EU-Regierungen machen dürfen. Die zentralen Richtwerte sind die Maastrichtkriterien (Neuverschuldung von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts, Gesamtschulden von maximal 60 Prozent). Zu Beginn der Pandemie wurden die Regeln ausgesetzt, seither sind die Schuldenstände in mehreren Ländern auf mehr als hundert Prozent gestiegen.
Deshalb sollen die alten Regeln bis zum Jahresende überarbeitet werden. Von einer Einigung sind die 27 Regierungen jedoch weit entfernt, wie sich beim Finanzministertreffen am Dienstag erneut zeigte.
Eine Gruppe hochverschuldeter Länder, angeführt von Italien, will größtmögliche Flexibilität beim Schuldenabbau. Sie verweisen darauf, dass nach den hohen Corona-Ausgaben nun obendrein Milliardeninvestitionen für den grünen Umbau der Wirtschaft nötig werden.
Kommission will Regeln lockern
Andere Regierungen, allen voran Deutschland und Österreich, warnen hingegen vor einer Aufweichung der Regeln. „Es gibt keinen Grund, von der harten und klaren Position Österreichs, die von anderen Staaten mitgetragen wird, abzuweichen“, sagte der österreichische Finanzstaatssekretär Florian Tursky. Es dürfe „keine 150 Ausnahmen“ für die Länder geben.
Ähnlich äußerte sich Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Zwar sei man offen für eine Änderung der Regeln, weil es „neue Investitionsnotwendigkeiten“ gebe. Es sei aber „zwingend“, dass die Schuldenabbaupfade der einzelnen Länder nachvollziehbar, glaubwürdig und berechenbar seien. „Das darf nicht in das Belieben gestellt werden.“
Die EU-Kommission hatte im vergangenen November einen ersten Reformvorschlag vorgelegt. Wichtigste Neuerung: Die Ein-Zwanzigstel-Regel soll abgeschafft werden. Diese sieht bislang vor, dass überschuldete Länder ihre Verschuldung binnen 20 Jahren unter die Maastricht-Grenze von 60 Prozent drücken müssen. Das gilt für mehrere Länder als unerfüllbar.
Nach der Vorstellung der Kommission soll künftig jedes Land einen maßgeschneiderten mehrjährigen Schuldenabbauplan mit Brüssel vereinbaren. Überschuldete Staaten müssen binnen vier Jahren einen nachhaltigen Abbaupfad erreichen. Bei Abweichungen vom vereinbarten Pfad würde ein Defizitverfahren eingeleitet, das ein Land unter die verschärfte Aufsicht der Kommission stellt.
Christian Lindner: „So nicht zustimmungsfähig“
Auf Antrag könnte die Anpassungsperiode auf sieben Jahre verlängert werden, wenn die Regierung konkrete Strukturreformen oder Investitionen vorweisen kann, die zur langfristigen Schuldentragfähigkeit beitragen.
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Die Kommissionsvorschläge gehen mehreren Regierungen zu weit. Sie seien „so nicht zustimmungsfähig“ und müssten in wesentlichen Punkten verändert werden, sagte Lindner. Aus Sicht der Kritiker darf die Kommission keinen zu großen Ermessensspielraum erhalten.
Es wird befürchtet, dass bilaterale Absprachen zwischen Mitgliedstaaten und der Kommission zu großzügig ausfallen könnten. Auch der Anpassungspfad von bis zu sieben Jahren gilt als zu lang, da keine Regierung sich an die Zusagen ihrer Vorgängerregierung gebunden fühlen würde.
Die schwedische Finanzministerin Elisabeth Svantesson, die derzeit die EU-Ratspräsidentschaft innehat, sagte, bis zum nächsten Treffen im März finde man hoffentlich eine gemeinsame Basis.
Andere Teilnehmer halten das angesichts der tiefen Meinungsunterschiede für unwahrscheinlich. Es wird bezweifelt, dass die Kommission wie geplant bis April einen Gesetzesvorschlag vorlegen kann. Auch dürfte der Streit erst richtig losgehen, sobald die Details vorliegen.
Die einzige Hoffnung bleibt, dass der Druck auf alle Regierungen wächst, je näher das Jahresende rückt. Denn eine erneute Aussetzung des Stabilitätspakts sei keine Option, betonte die niederländische Finanzministerin Sigrid Kaag. Auch Gentiloni sagte, die aktuelle wirtschaftliche Lage biete keinen Anlass, die Ausnahmeregelung zu verlängern.
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