Berlin Einmal im Jahr trifft sich das Hochamt der institutionellen Wirtschaftswissenschaft in Deutschland. Beim Leibniz-Gipfel sprechen die Chefs der sieben großen Forschungsinstitute über die drängendsten wirtschaftspolitischen Fragen. Überraschende Erkenntnisse durfte man in der Vergangenheit meist nicht erwarten.
An diesem Dienstag jedoch waren die Vorzeichen geändert. Die konjunkturelle Entwicklung in Deutschland ist unsicher wie selten zuvor, entsprechend weit gingen die Einschätzungen auseinander.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Energiekrise belasten, gleichzeitig aber holt die Wirtschaft stärker als erwartet nach, was während der Coronapandemie nicht möglich war. Die große Frage lautet: Erlebt Deutschland 2023 eine Rezession oder nicht?
Florian Heider, wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Finanzmarktforschung (Safe) Frankfurt, erklärte die Lage anhand eines Fußball-Vergleichs: Vor dem Spiel habe jeder gedacht, „wir liegen 0 : 3 zur Halbzeit zurück“. Jetzt stünde es zehn Minuten vor Halbzeit noch 0 : 0. „Aber wir können das Spiel noch verlieren.“
Im Kern gibt es fünf Faktoren, deren Entwicklung darüber entscheidet, ob es zu einer Rezession kommt.
Pro Rezession: Die EZB zieht mit der Zinswende die Konjunktur in ihren Bann
Die Euro-Zone und insbesondere Deutschland scheinen zwar den Höhepunkt der Inflation hinter sich gebracht zu haben. Ein Ende der hohen Inflationsraten ist damit aber noch nicht besiegelt. Im Euro-Raum lag die Inflationsrate im Januar bei 8,5 Prozent, in Deutschland bei 8,7 Prozent.
Damit ist man noch immer weit entfernt vom Ziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent. Die Notenbanker dürften daher noch einige Zeit an ihrem Kurs der geldpolitischen Straffung festhalten.
Die Zinswende hat gleichzeitig einen enormen Einfluss auf die Konjunktur. Höhere Zinsen wirken sich auf die gesamtwirtschaftliche Nachfrage in allen Bereichen aus. „Rezessionen werden meistens durch Zentralbanken ausgelöst“, sagte Reint Gropp, Präsident des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).
Heider vom Safe erklärte, es dauere eineinhalb bis zwei Jahre, bis geldpolitische Entscheidungen in der Realwirtschaft ihre Wirkungen entfalteten. Das erste Mal, dass die EZB die Zinsen angehoben hat, ist erst rund ein halbes Jahr her. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Ich gehe davon aus, dass wir eine Rezession sehen werden“, sagte Heider.
Dazu beitragen könnte auch die gefürchtete Preis-Lohn-Spirale. Diese käme in Gang, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit ihren Lohnforderungen aufgrund der Inflation übertreiben, sodass sie letztlich mehr konsumieren können und die Inflation so zusätzlich antreiben. Dann müsste die EZB die Zinsschrauben wohl noch stärker anziehen.
Rezessionen werden meistens durch Zentralbanken ausgelöst. Reint Gropp, Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)
Bislang sei das noch nicht zu sehen, sagte Gropp. „Das kommt erst noch.“ Zuletzt hat die Gewerkschaft Verdi für die Mitarbeiter der Post 15 Prozent mehr Gehalt gefordert, für den öffentlichen Dienst 10,5 Prozent. Der Präsident des Ifo-Instituts München, Clemens Fuest, erwartet allerdings nicht, dass sich das zu einem allgemeinen Phänomen entwickelt. „Abgesehen von der Post habe ich noch keinen Bereich gesehen, der völlig aus dem Ruder läuft“, sagte er.
Kontra Rezession: Wirtschaft ist viel höher ausgelastet als geschätzt
Die Wachstumsprognosen der Institute für 2023 bewegen sich im Moment allesamt bei etwa null Prozent. Sie könnten aber auf einer nicht zutreffenden Schätzung basieren. Für die konjunkturelle Entwicklung ist entscheidend, wie sehr die Wirtschaft ausgelastet ist. Das wird üblicherweise mit komplizierten mathematischen Methoden geschätzt. Aktuell kommt heraus, dass die Wirtschaft unterausgelastet ist.
Umfragen unter Unternehmen, die das Ifo-Institut macht, kommen allerdings zu ganz anderen Ergebnissen. Demnach ist die Wirtschaft stark ausgelastet. „Wir haben noch nie eine so große Diskrepanz gesehen“, sagte Stefan Kooths, Vizepräsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft (IfW).
Ein Grund für dieses Auseinanderdriften könnte die Knappheit von Arbeitskräften sein, die die Modelle womöglich nicht hinreichend abbilden können.
Ist die Wirtschaft wirklich viel höher ausgelastet, wäre das für die Konjunktur ein gutes Zeichen. Dann würde eine Abkühlung der Wirtschaft kein so großes Problem. Geht die Nachfrage etwa aufgrund der Zinswende zurück, würde das die Betriebe nicht in die Krise, sondern erst einmal nur in den Normalmodus treiben. „Eine Abkühlung muss uns deshalb nicht so sehr Sorge bereiten“, sagte Kooths.
Pro Rezession: Der Staat hilft der Wirtschaft an der falschen Stelle
Die grüne Transformation der Industrie und das US-Subventionsprogramm Inflation Reduction Act haben in Deutschland den Wunsch nach mehr staatlicher Unterstützung für die Wirtschaft ausgelöst. Überraschend einhellig erklärten die Ökonomen beim Leibniz-Gipfel, dass die Tendenz dabei in eine falsche Richtung gehen könnte.
„Ich mache mir große Sorgen, dass wir in einen Subventionswettlauf kommen“, sagte Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin. Die Politik müsse sich darauf fokussieren, bessere Rahmenbedingungen zu schaffen. Allgemeine Subventionen hingegen bergen die Gefahr, dass auch fossile Energieträger unnötigerweise gefördert würden.
Seine Kollegen gingen noch weiter und zeigten sich auch skeptisch gegenüber Staatshilfen für grüne Technologien. „Subventionen haben ein echtes Problem, weil sie immer nur einen Teil der Lieferkette rausgreifen“, sagte Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) Mannheim.
Es sei absurd, neue energieintensive Branchen wie die Batterieproduktion mit Staatsgeld nach Deutschland zu locken, ergänzte Kooths. Subventionen schafften keine bessere Figur, sie seien bloß „ein Korsett, dass nur den Speck wegquetscht“.
Eine aus Sicht der Ökonomen fehlgeleitete Industriepolitik würde vermutlich nicht direkt Auslöser einer Rezession im Jahr 2023 sein. Sie könnte aber mittelfristig das Geld und den Fokus für andere konjunkturförderliche Maßnahmen blockieren, so die Ansicht der Leibniz-Runde.
Kontra Rezession: Der Binnenmarkt entwickelt sich stabil
Die handelsintensive deutsche Wirtschaft hängt vor allem davon ab, dass es im Binnenmarkt gut läuft. Das scheint zunehmend der Fall. So kommt Europa dieses Jahr laut der EU-Kommission um eine Rezession herum, und Deutschland könnte in diesem Sog mitziehen.
Die Wirtschaft in der Euro-Zone soll 2023 um 0,9 Prozent wachsen, in der gesamten EU wird mit einem Wachstum von 0,8 Prozent gerechnet. „Auf EU-Ebene scheint die Wirtschaft einigermaßen stabil zu sein“, sagte Thomas Bauer, Vizepräsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) Essen.
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