Paris, Madrid Wann darf Wasserstoff als „grün“ bezeichnet werden? Die Regierung in Paris reagierte mit Genugtuung auf den Vorschlag der EU-Kommission, dass das Industriegas auch dann als klimafreundlich gelten kann, wenn der zur Herstellung benötigte Strom aus Atomkraftwerken stammt.
Im Umfeld der französischen Energieministerin Agnès Pannier-Runacher war von einem „schönen französischen Sieg“ die Rede. Denn bei den europäischen Wasserstoffkriterien geht es um weit mehr als nur eine technische Definition. Dahinter steht die hochpolitische Frage, welche Rolle die Atomkraft künftig bei der Energiewende in Europa spielen soll.
Die Protagonisten in dem Konflikt sind Deutschland und Frankreich, die unterschiedliche Wege eingeschlagen haben, das heikle Thema aber lange ausklammerten. Nun geraten die beiden größten Volkswirtschaften der EU aneinander bei dem Versuch, auf dem Weg zur Klimaneutralität einen gemeinsamen europäischen Rahmen zu definieren.
Und der Streit dürfte noch an Schärfe zunehmen: Die vorgeschlagene Definition von grünem Wasserstoff war nur der erste Schritt. In den kommenden Wochen werden Verhandlungen zwischen Mitgliedstaaten, Kommission und EU-Parlament darüber entscheiden, ob Atom an der Seite von Erneuerbaren anerkannt wird.
Die Bundesregierung will das verhindern. „Wir haben eine klare Position“, sagte eine Sprecherin des Wirtschaftsministeriums. „Nach unserer Meinung ist Kernkraft keine erneuerbare Energie und Wasserstoff, der mit Kernkraft hergestellt wird, kein erneuerbarer, grüner Wasserstoff.“ Deutschland werde sich mit dieser Position in die Diskussionen um die Überarbeitung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie einbringen.
Berlin: Wasserstoff aus Atomstrom ist nicht grün
Die Regierung in Paris setzt neben der Wind- und Solarenergie auch auf die kohlenstoffarme Atomkraft. Mindestens sechs neue Reaktoren sollen bis 2035 entstehen. Ohne das grüne Label für atomstrombasierten Wasserstoff wird die französische Wirtschaft die EU-Klimaziele wohl nicht erreichen können.
„Wir haben in der Sache recht, wir werden nicht davon ablassen.“
In Paris glaubt man zudem, dass Deutschland in der EU zunehmend in eine Minderheitsposition gerät. Mehrere osteuropäische Staaten bauen oder planen Reaktoren, auch Schweden und die Niederlande wollen wieder in die Kernenergie investieren. Zusammen mit einer Reihe verbündeter Regierungen forderte Frankreich vergangene Woche in einem Brief an die Kommission einen „technologieoffenen Ansatz“, der Atomstrom bei den Zielen für grünen Wasserstoff im Verkehrssektor und in der Industrie berücksichtigt.
„Die Anreize auf die Herstellung von Wasserstoff nur mit Erneuerbaren zu beschränken würde die Produktionskosten erhöhen und die weltweite Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie verringern“, heißt es in dem Schreiben, das dem Handelsblatt vorliegt. In ihrer bisherigen Form sei die Erneuerbare-Energien-Richtlinie „kontraproduktiv“ für den Ausbau klimafreundlicher Wasserstoffnutzung in den Bereichen Industrie und Verkehr, die besonders hohe CO2-Emissionen hätten.
Die Wasserstoffdefinition der Kommission sei ein erster Schritt, um diese „Absurdität“ zu beseitigen, hieß es in französischen Regierungskreisen. Nun gehe es darum, in den anstehenden Verhandlungen eine „Gleichbehandlung“ von Wasserstoff aus Erneuerbaren und CO2-armer Atomenergie zu erreichen. Mindestens aber müsse die EU-Richtlinie die Rolle von Wasserstoff auf Atomstrombasis bei der Erreichung der Klimaziele anerkennen.
Deutsch-französische Beziehungen in der Krise
Die deutsch-französischen Beziehungen durchlaufen seit einigen Monaten eine komplizierte Phase, die Differenzen reichen von der Energiekrise bis zur Verteidigungspolitik. Mitte Januar bemühten sich beide Regierungen, bei den Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags in Paris ein Harmoniesignal auszusenden.
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In der Abschlusserklärung des Deutsch-Französischen Ministerrats gab es sogar eine Kompromissformel für die Atomkraft: „In Anerkennung der Unterschiede zwischen unserer jeweiligen nationalen Energieerzeugung“ wolle man bei der „Wasserstofferzeugung in großem Umfang“ zusammenarbeiten. „Wir werden außerdem sicherstellen, dass sowohl erneuerbarer als auch kohlenstoffarmer Wasserstoff bei den europäischen Dekarbonisierungszielen berücksichtigt werden kann.“ Für Paris war damit die Sache klar: Berlin wird den Widerstand in Brüssel aufgeben.
Umso empörter waren die Franzosen dann, als Berlin sich bei Wasserstoff aus Atomstrom weiter querstellte. In französischen Regierungskreisen ist von einem „Wortbruch“ die Rede. Eine ranghohe Vertreterin sagte: „Wir haben in der Sache recht, wir werden nicht davon ablassen.“
Die Bundesregierung wiederum kann die Aufregung nicht verstehen – und interpretiert die Abschlusserklärung des Treffens in Paris ganz anders: Beide Länder hätten „ihre jeweiligen abweichenden oder unterschiedlichen Positionen zur Nutzung der Atomenergie dargelegt“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit.
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Die Sicht aus Berlin ist: Allenfalls könnten Mitgliedsstaaten wie Frankreich ihren Atomenergie bei den Klimazielen anrechnen. Die Kernkraft sei aber keine förderungswürdige „grüne“ Energie. Die deutsche Befürchtung ist, dass eine Gleichsetzung den Ausbau von erneuerbaren Energien in Europa hemmen könnte.
Die Bundesrepublik weiß in der Atomfrage unter anderem Österreich, aber auch Spanien an seiner Seite. Das Ministerium für den ökologischen Wandel in Madrid stellte klar: „Einige Mitgliedstaaten (darunter Frankreich) haben die Europäische Kommission aufgefordert, kohlenstoffarmen Wasserstoff in die EU-Ziele für erneuerbare Energien aufzunehmen. Spanien lehnt diese Option zusammen mit anderen EU-Partnern wie Deutschland eindeutig ab.“
Die französische Regierung ist der Auffassung, dass man im Januar mit Deutschland und auch Spanien eigentlich einen Kompromiss gefunden habe: Berlin und Madrid sperren sich nicht weiter gegen atomstrombasierten Wasserstoff, Paris ermöglicht im Gegenzug den Bau einer Wasserstoffpipeline von der Iberischen Halbinsel nach Südfrankreich. Die Bundesregierung hat großes Interesse daran, dass das Pipelineprojekt H2Med perspektivisch bis nach Deutschland verlängert wird.
Paris droht mit Blockade von Pipelineprojekt
Nun droht Paris damit, die Pipelinepläne zu blockieren. „Wenn Frankreich wegen der europäischen Regeln seinen Wasserstoff nicht produzieren kann, dann steht die wirtschaftliche Tragfähigkeit dieses Projekts infrage“, hieß es in französischen Regierungskreisen.
Auch in dem gemeinsamen Schreiben mit verbündeten EU-Staaten an die Kommission macht Frankreich den Aufbau einer europäische Wasserstoffinfrastruktur mehr oder weniger deutlich von der Atomfrage abhängig: Die Bedingungen für ein grenzüberschreitendes Pipelinenetzes könnten „in einem Kontext, in dem Mitgliedsstaaten nicht die gleichen Ansichten über die Herstellung und die Nutzung von Wasserstoff teilen“ nicht gegeben sein, steht dort.
Deutschland will einen großen Teil des künftigen Wasserstoffbedarfs über Importe abdecken. Das mit Solar- oder Windenergie produzierte Gas soll unter anderem aus Südeuropa oder auch nordafrikanischen Ländern kommen. Frankreich strebt vor allem eigene Produktionskapazitäten auf Grundlage des Atomkraftparks an – und hofft, selbst zum Wasserstoffexporteur zu werden.
Der spanische Energieexperte Ramón Mateo von der Beratung Bebartlet zeigt sich verwundert über das französische Auftreten. Bei dem Pipelineprojekt H2Med gehe es darum, Wasserstoff aus erneuerbaren Energien von der Iberischen Halbinsel nach Norden zu transportieren – und nicht atomstrombasierten Wasserstoff aus Frankreich nach Süden. „Jetzt ist es in Brüssel auf der Tagesordnung und Frankreich nutzt H2Med als Druckmittel, damit Spanien und Deutschland bei dem Thema nachgeben.“
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