Düsseldorf Das positive Bild der deutschen Wirtschaft täuscht. Anders als oft von der Bundesregierung suggeriert, ist die deutsche Volkswirtschaft keineswegs besonders gut durch die Pandemie gekommen. Erst im dritten Quartal 2022 erreichte die Wirtschaftsleistung wieder das Vor-Corona-Niveau – so spät, wie in kaum einem anderen europäischen Land.
Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der EU lag im dritten Quartal 2,7 Prozent höher als vor der Pandemie, in Frankreich immerhin um 1,1 Prozent und in Italien um 1,8 Prozent.
Und die Freude über die nun geschlossene Coronalücke währte nur kurz. Nach nunmehr revidierten Daten schrumpfte die deutsche Wirtschaftsleistung im vierten Quartal 2022 nämlich wieder. Während die Euro-Zone als Ganzes immerhin noch ein Mini-Wachstum schaffte, ging die deutsche Wirtschaftsleistung um 0,2 Prozent zurück.
Noch gravierender werden die Unterschiede beim Blick auf das Gesamtjahr 2022. Während die Politik Deutschland für 1,8 Prozent Wachstum feierte, wuchs die Wirtschaft der Euro-Zone im selben Zeitraum um 3,5 Prozent, also fast doppelt so stark.
Für die nahe Zukunft ist keine Besserung in Sicht. Im Gegenteil: Vom Finanzdatendienstleister Bloomberg befragte Volkswirte erwarten für Deutschland ein Minus von 0,4 Prozent im ersten Quartal. Die Sorge vor einer technischen Rezession würde Realität. Weil auch danach nur mit geringem Wachstum zu rechnen ist, dürfte das deutsche BIP erst am Jahresende 2023 wieder das Niveau des Sommers 2022 erreichen – und damit auch den Vor-Corona-Stand. Anders ausgedrückt: Deutschland fehlen dann vier Jahre Wirtschaftswachstum.
Stimmungsindikatoren weisen nach oben
Umso bemerkenswerter ist, dass die Stimmungsindikatoren für die deutsche Volkswirtschaft nach oben weisen. Das Ifo-Geschäftsklima verbesserte sich bereits das vierte Mal in Folge, die ZEW-Konjunkturerwartungen notieren erstmals seit Februar 2022 wieder im positiven Bereich und die Verbraucherstimmung erreichte wieder das Niveau von dem Ausbruch des Ukrainekriegs, wie Zahlen zum HDE-Konsumklima belegen.
Gleichzeitig sprechen die harten Fakten eine andere Sprache. Trotz des nach wie vor stattlichen Auftragspolsters sank die Fertigung im produzierenden Gewerbe im Dezember um 3,1 Prozent gegenüber dem Vormonat – und damit deutlich stärker als erwartet. Besonders am Bau brachen die Geschäfte ein, dort ging die Produktion um acht Prozent zurück. Baufinanzierer sprechen gegenwärtig gar von dem schärfsten Einbruch aller Zeiten.
Ferner knickte im Dezember der Einzelhandelsumsatz ein. Die Händler machten im Weihnachtsmonat real kalender- und saisonbereinigt 5,3 Prozent weniger Umsatz als im Vormonat, gemessen am Vorjahresmonat war der Umsatz sogar real um 6,4 Prozent niedriger. Offensichtlich bemühen sich die Konsumenten, ihr Geld zusammenzuhalten.
Die Rekordinflation von 7,9 Prozent im zurückliegenden Jahr führte dazu, dass die Reallöhne um 4,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr sanken. Nach nunmehr drei Jahren in Folge mit Rückgängen ist die reale Kaufkraft der Arbeitnehmer heute so hoch – richtiger: so niedrig – wie im Jahr 2014. Den Arbeitnehmern fehlen also acht (!) Jahre Wohlstandsgewinn.
Angesichts von Rekordgewinnen zahlreicher Dax-Konzerne deutet vieles darauf hin, dass vor allem Arbeitnehmer und der Staat bisher die finanziellen Folgen der Energiekrise getragen haben.
Tarifrunden dürften hart werden
Die im weiteren Jahresverlauf anstehenden Tarifrunden für elf Millionen Arbeitnehmer dürften daher hart werden. Die Gewerkschaft Verdi fordert für die 2,8 Millionen Beschäftigten im öffentlichen Dienst von Bund und Gemeinden 10,5 Prozent Gehaltsplus. Für die 160.000 Post-Beschäftigten verlangt die Gewerkschaft sogar ein Plus von 15 Prozent, und die EVG will für die Eisenbahner zwölf Prozent Einkommenszuwachs durchsetzen.
Erwartungsgemäß wiesen die Arbeitgeber die Forderungen als viel zu hoch zurück. Doch die Gewerkschaften reagieren mit Streiks, etwa im Nahverkehr und an den Flughäfen.
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Inwieweit der Standort Deutschland kräftige Lohnzuwächse vertragen könnte, ist umstritten. Einerseits ist die Konjunkturentwicklung ungewiss und dürfte maßgeblich von der weiteren Entwicklung im Ukrainekrieg und der Lage auf den Energiemärkten beeinflusst werden. Experten wie Netzagenturchef Klaus Müller warnen wegen einer anhaltenden Gasknappheit, „der womöglich härtere Winter ist der nächste“.
Andererseits scheint sich der Welthandel angeführt von China gerade von den Pandemie- und Kriegsfolgen merklich zu erholen – und in der Vergangenheit war die exportstarke deutsche Industrie stets einer der Topprofiteure von einer anziehenden Weltkonjunktur.
Die deutsche Binnenkonjunktur hingegen dürfte vorerst weiter von kräftigen Rückgängen der Realeinkommen beeinflusst sein. Spätestens, wenn die umfassenden Staatshilfen ausgezahlt und ausgegeben sind und keine neuen Hilfspakete nachkommen, werden für die Deutschen die Einkommensverluste offenkundig werden. Allein im laufenden Jahr dürften sich die realen Kaufkraftverluste voraussichtlich auf eine Größenordnung von gut 100 Milliarden Euro summieren, von denen staatliche Hilfen rund 50 Milliarden und die Energiepreisbremsen etwa 20 Milliarden Euro ausgleichen dürften.
Angesichts von Konsumausgaben der privaten Haushalte in einer Größenordnung von zwei Billionen Euro wirken die verbleibenden Verluste von überschlägig 30 Milliarden zwar überschaubar. Gleichwohl ist echter Rückenwind für die fragile Konjunktur vom privaten Konsum so sicher nicht zu erwarten.
Selbst wenn das Gesamtjahr 2023 ohne böse Überraschungen verlaufen sollte, wird am Jahresende womöglich eine schwarze Null in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung stehen – bestenfalls. Denn noch ist es keineswegs sicher, dass eine Rezession ausbleibt. Im Durchschnitt erwarten die von Bloomberg befragten Volkswirte nach wie vor ein Minus von 0,2 Prozent. Das wäre auf Jahressicht der sechste Rückgang der Wirtschaftsleistung im wiedervereinigten Deutschland.
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