Feb 20, 2023
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Erdbeben in der Türkei: Kurz vor der Wahl wächst die Wut auf Erdogan

Written by Ozan Demircan


Ankara 41.000 Tote, Hunderttausende Verletzte, Millionen Obdachlose: Das Erdbeben vom 6. Februar hat die Türkei schwer getroffen, zwei Wochen später erwacht das Land langsam aus seiner Schockstarre. Und das Entsetzen verwandelt sich in Wut. Es ist eine Wut auf die politische Führung, Wut auf den autokratisch regierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.

Und es ist eine Wut, der sich kein Verantwortlicher entziehen kann. Mitte Mai sollen die Präsidentschaftswahlen stattfinden. Dann könnten sich die Machtverhältnisse in dem Land umwälzen.

Neue Umfragen aus der Zeit nach dem Erdbeben liegen zwar noch nicht vor, doch die Stimmung in der Bevölkerung ist aufgeladen. Am 14. Mai sollen die Menschen ein neues Parlament und einen Staatschef wählen. Und fest steht: Immer mehr Türken wollen mit ihrer Regierung abrechnen – und finden nun im Krisenmanagement aus Ankara ihr Thema.

Es geht um die zentralen Kritikpunkte, etwa die mangelhafte Katastrophenhilfe, die schlechte Gesundheitsversorgung, die Baumängel der eingestürzten Häuser. Darüber hinaus geht es längst aber auch um die kleinen Symbole, die zuweilen in der Öffentlichkeit trotzdem überdimensionale Bedeutung erlangen. So werden Gesundheitsminister Koca, Innenminister Soylu und Bauminister Kurum dafür kritisiert, dass sie sich bei ihren regelmäßigen Pressekonferenzen aus dem Erdbebengebiet mit Dreitagebart zeigten.

Dabei ist es in der islamischen Kultur Tradition, sich nach Katastrophen oder dem Tod von Angehörigen für mehrere Tage nicht zu rasieren. Doch viele vermuten, dass die Verantwortlichen damit lediglich ihren eigenen Einsatz wirkungsvoll in Szene setzen wollten.

>> Lesen Sie dazu auch: Bis zu 84 Milliarden Dollar – so teuer wird der Wiederaufbau in der Türkei

„Die machen ja nur PR!“, hieß es in Kommentaren auf Twitter. „Es ist ein eklatanter Versuch zu demonstrieren, dass sie hart arbeiten und keine Zeit für ihre Körperpflege haben“, schreiben andere. „Die Regierungspartei AKP ist heutzutage nur noch eine schlechte PR-Maschine.“ Dass Gesundheitsminister Koca keiner politischen Partei angehört, geht in der Kritik unter.

Viele in der Türkei sagen, dass mehr Menschen das Erdbeben der Stärke 7,7 überlebt hätten, wenn die Notfallmaßnahmen schneller und besser organisiert gewesen wären.

So liest man inzwischen selbst bei renommierten Kolumnisten wie Murat Yetkin, dass Verteidigungsminister Hulusi Akar in den ersten Tagen vergeblich auf eine Anweisung von Erdogan gewartet haben könnte, seine Soldaten in die Krisengebiete zu schicken. Möglicherweise habe der Staatschef darauf bestanden, zunächst den eigenen Katastrophenschutz Afad ins Gebiet zu schicken.

Wahlkampfplakat, Trümmer eines Hauses

Regierungschef Erdogan steht nach dem Erdbeben vor einer ungewissen politischen Zukunft.


(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)

Ob das stimmt, ist völlig unklar. „Vielleicht wollte Akar dies so sagen, aber er hat es nicht gesagt“, muss selbst Yetkin am Ende einräumen. Aber damit ist das Gerücht erst recht in der Welt.

Auch der Verweis auf das ungewöhnliche Ausmaß des Bebens bringt die Regierung nicht aus der Defensive. Im Gegenteil, die Kritik am Krisenmanagement nimmt zu. „Das allgemeine Problem hier ist die Organisation, insbesondere im Gesundheitsbereich“, moniert Onur Naci Karahanci, ein Arzt, der in Adiyaman im Südosten der Türkei arbeitet. So habe es an den Tagen nach dem Beben nicht genug Leichensäcke für die Toten gegeben.

Einige Überlebende sagten, sie hätten erfolglos versucht, die türkische Katastrophen- und Notfallmanagementbehörde (Afad) zu kontaktieren. Am Ende hätten sie die örtlichen Teams gebeten, ihre Angehörigen aus den Trümmern zu retten. Doch dort habe man ihnen zu verstehen gegeben, dass solche Anfragen über die Koordinierungszentren der Afad abgewickelt werden müssen.

Der Staat bekommt Geld und entzieht sich der Verantwortung

Auch die Kritik an der Bauqualität vieler Häuser reißt nicht ab. Im Internet kursieren immer mehr Bilder und Videoaufnahmen eingestürzter Gebäude, bei denen der Beton bröckelt oder offensichtlich ist, dass nicht genügend Stahl verarbeitet worden war. Ein Foto zeigt Muscheln in den Betontrümmern – ein Indiz dafür, dass Meeressand als Baumaterial benutzt wurde. „Woher sollen die Opfer gewusst haben, dass ihre Häuser sprichwörtlich auf Sand gebaut wurden?“, fragt ein renommierter türkischer Koch. Er spricht von massiven Baumängeln.

Zerstörte Häuser in Antakya

Das Beben forderte in der Türkei und in Syrien Zehntausende Menschenleben.


(Foto: AP)

Nach einem Erdbeben im Jahr 1999 hatte die damalige Regierung zwar die Bauvorschriften verschärft. Doch nun halten viele Menschen der aktuellen Regierung vor, diese Vorschriften nicht kontrolliert zu haben. Auch eine Bauamnestie aus dem Jahr 2018, die es Bauherren erlaubte, ihre Häuser gegen Zahlung einer Gebühr auch ohne behördliche Genehmigung zu legalisieren, wird den Verantwortlichen in Ankara nun zum Verhängnis.

Denn die Amnestie legte unter anderem fest, dass auch die Erdbebensicherheit des Gebäudes allein in der Verantwortung der Bauherren liege und nicht vom Staat kontrolliert werde. „Der Staat nimmt das Geld und entzieht sich der Verantwortung“, schlussfolgert eine Twitter-Nutzerin.

In der ohnehin schon polarisierten türkischen Gesellschaft ist die Frage nach einer möglichen Schuld am Erdbeben umgehend zum politischen Diskurs geworden. Ob begründete Politik, nicht nachprüfbare Aussagen oder bewusst platzierte Lügen: Die sozialen Medien werden zu Brandbeschleunigern der hitzigen Debatte. Viele Bilder über mutmaßliche Baumängel, aber auch Gerüchte über schlechtes Krisenmanagement und Fehler des Staates werden tausendfach geteilt.

Die meisten Rettungsmaßnahmen wurden eingestellt

Am Morgen des 6. Februars hatte ein Beben der Stärke 7,7 die Südosttürkei und den Norden Syriens erschüttert, Stunden später folgte ein zweites schweres Beben der Stärke 7,6.

Experten wie etwa vom Technischen Hilfswerk (THW), die selbst vor Ort geholfen haben, bestätigen, dass eine Naturkatastrophe von einem derartigen Ausmaß alle staatlichen und privaten Hilfsmechanismen erst einmal völlig überfordert. So haben die Beben neben Häusern und anderen Gebäuden auch Straßen aufgebrochen, sodass die ersten Helfer einige Orte zunächst gar nicht erreichen konnten.

Zwei Wochen nach der Erdbebenkatastrophe laufen nur noch wenige Rettungsarbeiten. Allein in den Provinzen Kahramanmaras und Hatay werde weiter nach Verschütteten gesucht, sagte der Vorsitzende des Katastrophenschutzes, Afad Yunus Sezer, in Ankara. Fast 47.000 Tote wurden inzwischen registriert, mehr als 41.000 allein in der Türkei, der Rest in Nordwestsyrien. Der Wiederaufbau könnte bis zu 84 Milliarden US-Dollar kosten.

Mehr: Wie sich Japan gegen Erdbeben wappnet



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