Wien „Denken Sie bitte österreichisch!“, forderte jüngst ein Korruptionsstaatsanwalt von den Geschworenen im Wiener Straflandesgericht. Was der Jurist damit meinte, ist für das Land nicht schmeichelhaft.
Den Geschworenen, die in Österreich bei besonders schweren Straftaten über Schuld oder Unschuld entscheiden, wollte er bewusst machen, wie verbreitet in ihrem Land eine spezielle Art der Korruption sei. Das Prinzip: „Ich gebe dir, damit du mir gibst.“
Im konkreten Fall hatte die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) neben anderen den Immobilieninvestor René Benko und den Industriellen Michael Tojner angeklagt, weil sie den grünen Politiker Christoph Chorherr bestochen haben sollen.
Die Staatsanwälte behaupteten, das Mitglied des Wiener Gemeinderats habe für seinen Wohltätigkeitsverein Spenden angenommen und sei dafür den Investoren zu Diensten gewesen, etwa bei der Entwicklung von Grundstücken.
Das flammende Plädoyer des Staatsanwalts verfing allerdings nicht. Die Geschworenen sprachen die Angeklagten Ende Januar frei. Es gäbe keinen direkten Zusammenhang zwischen den Spenden und den Entscheidungen bei der Stadt Wien.
Österreichs Korruptionsstaatsanwälte knöpfen sich gerade die Elite des Landes vor. Auffallend viele Politiker und Unternehmer sind in Verfahren verwickelt, selbst gegen den ehemaligen Bundeskanzler Sebastian Kurz wird ermittelt.
Hat Österreich ein Korruptionsproblem?
Getreue des Politikers sollen bei der Boulevard-Zeitung „Österreich” mit Inseraten eine wohlwollende Berichterstattung erkauft haben. Seitdem die Affäre im Oktober 2021 aufgeflogen ist, warten die Österreicher gespannt darauf, ob die Korruptionsstaatsanwälte auch die ehemalige Lichtgestalt Kurz anklagen werden.
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Die sogenannte Inserate-Affäre ist nur eine von zahlreichen Episoden, die viele Österreicher davon überzeugt haben, dass ihr Land ein Korruptionsproblem habe. Aus ihrer Sicht war es daher auch höchste Zeit, dass die Justiz bei der Bekämpfung des Übels einen Gang hochschaltet.
Das forsche Vorgehen der Korruptionsstaatsanwälte hat allerdings kontroverse Diskussionen provoziert. Führen angeblich politisch eher linksstehende Staatsanwälte einen Kreuzzug gegen das bürgerliche Österreich, wie auch Kurz behauptete? Oder nimmt eine neue Generation von Staatsanwälten bloß ihre Aufgabe ernst, was für gewisse Politiker und Unternehmer eine neue Erfahrung zu sein scheint?
Wenn Österreicher über die angeblich im Land herrschende Korruption klagen, handelt es sich um ein eher diffuses Gefühl. Es bedeutet etwa nicht, dass man hierzulande einem Beamten oder einer Beamtin einen Geldschein zustecken muss, um ein dringend benötigtes Formular zu bekommen. Die Verwaltung, so die einhellige Meinung, arbeitet effektiv, und die Beamten verhalten sich weithin gesetzestreu.
Im Wien läuft sich die Elite ständig über den Weg
Ein Problem ist stattdessen die vom Staatsanwalt im Chorherr-Fall angesprochene „Freunderlwirtschaft“. Österreich ist ein kleines Land, in Wien läuft sich die Elite ständig über den Weg, und Kontakte entstehen rasch. Daraus entsteht schnell die Erwartung, dass man einander bei Problemen auf informelle Weise hilft. „In Österreich denkt man nicht so sehr institutionell, sondern persönlich vernetzt“, sagt der ehemalige Rechtsprofessor und Universitätsrektor Manfried Welan im Gespräch.
Was das im Alltag bedeutet, zeigt der Fall des Industriellen Siegfried Wolf, der Ende 2021 ans Tageslicht kam und noch nicht abgeschlossen ist. Der Unternehmer mit vielfältigen Beziehungen zur deutschen und russischen Autoindustrie musste auf Geheiß der Behörden Steuern nachzahlen, weil es im Doppelbesteuerungsabkommen von Österreich und der Schweiz Änderungen gegeben hatte.
Der Geschäftsmann fühlte sich dadurch aber ungerecht behandelt und intervenierte beim Finanzminister, anstatt den Instanzenweg zu gehen. Nach langem Hin und Her einigten sich die Parteien auf eine Nachzahlung.
Uneinigkeit herrschte allerdings weiterhin über die Verzugszinsen. Um sie zu vermeiden, suchte Wolf den Kontakt zu einer Finanzbeamtin. Das Ergebnis war für beide Seiten mehr als zufriedenstellend: Wolf wurde ein großer Teil der Verzugszinsen erlassen, die Finanzbeamtin erhielt aufgrund von Wolfs Fürsprache im Ministerium einen leitenden Posten bei einem anderen, für sie besser gelegenen Finanzamt.
Eine Schlüsselfigur im Finanzministerium
Kurios ist, wie dieser Fall und weitere Affären öffentlich wurden: Im Zug von Ermittlungen hatten die Staatsanwälte Datenträger von Thomas Schmid beschlagnahmt, der zwischen 2013 und 2019 als Generalsekretär und Kabinettschef im Finanzministerium gearbeitet und mit vielen Politikern und Unternehmern Chat-Nachrichten ausgetauscht hatte. Nach wie vor ist die WKStA damit beschäftigt, diese Chats auszuwerten, angeblich soll es davon 300.000 geben.
Angesichts dieser Fülle erwarten viele in Österreich, dass die Staatsanwälte noch auf manche Ungereimtheit stoßen werden. Bisher ist in den prominenten Fällen aber noch niemand verurteilt worden. Ausschließlich Freisprüche gab es nicht nur im Fall Chorherr, sondern auch im Prozess gegen den ehemaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache.
Laut der Staatsanwaltschaft hatte der rechtspopulistische Politiker dem Krankenhausinvestor Walter Grubmüller Gefallen getan und dafür Parteispenden für die FPÖ angenommen. Das Gericht sah einen solchen Zusammenhang allerdings nicht als erwiesen an. Die WKStA habe eine weitere Schlappe erlitten, lauteten Kommentare.
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Diese Kritik ließ die resolute Chefin der Behörde nicht auf sich sitzen. Ilse-Maria Vrabl-Sanda sagte, man spiele vor Gericht kein Fußballmatch mit Siegern und Verlieren. Vielmehr sei die WKStA auch eine „Sachverhaltsaufklärungsbehörde“. Und die Staatsanwälte müssten eine Anklage erheben, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Schuldspruchs größer sei als jene eines Freispruchs.
Die Korruptionsstaatsanwaltschaft läuft so aber Gefahr, sich zu verzetteln. Obwohl sie bereits viele, teilweise komplexe Verfahren führt, geht sie bei Freisprüchen häufig in Berufung. Sie lädt sich so immer mehr Arbeit auf.
„Warten Sie, ich kenn’ da jemanden“
Auch den Fall Strache wollen die Korruptionsstaatsanwälte weiterziehen, obwohl die Richterin der zweiten Instanz die Anklage zerpflückte. Es fehlten schlicht die belastenden Fakten, sagte sie.
„Wenn die WKStA nicht mehr weiterkommt, ist es besser, einen Fall auch einmal ruhen zu lassen und sich auf beweisbare zentrale Vorwürfe zu konzentrieren“, sagt Robert Kert, Rechtsprofessor an der Wirtschaftsuniversität in Wien. Zumal die häufig langen Verfahren für die Betroffenen eine Belastung darstellten.
Juristisch ist die Freunderlwirtschaft eben schwer fassbar: Es handelt sich um ein kulturelles Phänomen, an dem das Recht je nach Fall abprallt. „Manches Verhalten von Entscheidungsträgern mag verwerflich oder unerwünscht sein; das heißt aber noch nicht, dass es auch strafbar ist“, sagt Kert.
Der ehemalige Universitätsrektor Welan erinnert sich noch gut daran, was er als junger Mann häufig zu hören bekam, wenn er einen etablierten Mentor um einen Rat fragte: „Warten Sie, ich kenn’ da jemanden.“ Diese Einstellung ist in Österreich offenbar weiterhin verbreitet. Die Justiz beißt sich an ihr gerade die Zähne aus.
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