Dass das neue „Windsor Framework“ im Schatten des königlichen Schlosses besiegelt wurde und hinterher durch den Besuch der EU-Chefin bei König Charles III. auch noch so etwas wie königliche Weihe erhielt, lässt sich an Symbolik kaum noch übertreffen. „Das Vertrauen in die britische Politik ist zurückgekehrt“, sagte ein EU-Diplomat.
Wirtschaftliche Nachteile des Brexits werden spürbarer
Das wirft die schicksalhafte Frage auf: Wohin treibt Großbritannien sieben Jahre nach dem Brexit-Votum? Löst der britische Premier mit dem „Windsor Framework“ sein Versprechen ein, den Brexit zum Erfolg zu führen? Oder ist das Ende des Nordirland-Streits der Beginn eines Reueprozesses, der in mehr oder weniger ferner Zukunft sogar den Austritt rückgängig machen könnte?
Die meisten Inselbewohner bedauern inzwischen den Bruch mit den europäischen Partnern, vor allem weil seine wirtschaftlichen Nachteile immer stärker im Alltag spürbar werden. „Die Menschen merken, dass der Brexit ein großer Irrtum war“, sagt Michael Heseltine im Gespräch mit dem Handelsblatt.
Der inzwischen 89-jährige ehemalige Vizepremier ist so etwas wie das europäische Gewissen der regierenden Tories und hält den EU-Austritt seines Landes für eine „Tragödie“. Sein früherer Chef, der konservative Ex-Premier John Major, spricht von einem „kolossalen Fehler“.
Großbritannien steht zwar nicht vor einer baldigen Rückkehr in die europäische Gemeinschaft. Die Stimmung im Königreich hat sich in den vergangenen zwei Jahren jedoch grundlegend gewandelt: Mehr als die Hälfte der Briten hält den Brexit inzwischen für einen Fehlschluss.
Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Unherd gibt es nur noch in drei der 632 Wahlkreise in Großbritannien eine Mehrheit für den Austritt. „Das letzte halbe Dutzend Umfragen ergab, dass sogar 58 Prozent für einen EU-Beitritt stimmen würden“, schreibt der Politikwissenschaftler und Meinungsforscher John Curtice von der Universität Strathclyde.
Dass weder Sunak noch Oppositionsführer Keir Starmer von der Labour Partei dieses politische Momentum bislang genutzt haben, um den vermutlich größten wirtschaftlichen Schaden zu reparieren, den Großbritannien sich jemals selbst zugefügt hat, ist nur mit einer politischen Massenpsychose zu erklären: Das ganze Land inklusive seiner führenden Politiker war gefangen in einem Trauma, an das niemand rühren wollte und aus dem das Land jetzt langsam erwacht.
Ob Sunak das Königreich daraus mit seinem Nordirland-Vorstoß befreien kann und will, wird womöglich nicht nur sein politisches Schicksal entscheiden, sondern auf absehbare Zeit auch den Kurs Großbritanniens bestimmen. Bislang überbieten sich die regierenden Tories und die oppositionelle Labour Partei mit dem Versprechen: „We will make Brexit work.“ Darin steckt immer noch der trotzige Glaube, man müsse die Fehlentscheidung nur konsequent und lange genug weiterverfolgen, um am Ende doch noch ans Ziel zu kommen.
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Brexit-Befürworter wie der britische Energieminister Grant Shapps räumen zwar ein, dass der Austritt „kurzfristig“ zu Verwerfungen insbesondere in der Wirtschaft führe. Langfristig werde jedoch die Bilanz positiv ausfallen. Bis zu 50 Jahre könne es allerdings dauern, bis die Vorteile des EU-Austritts zum Tragen kommen, hat Jacob Rees-Mogg vom rechten Parteiflügel der Tories prophezeit.
Viele Briten haben jedoch das Warten auf die versprochene „Brexit-Dividende“ satt. „Make Brexit work ist eine Illusion“, sagt der belgische Europapolitiker Guy Verhofstadt. „Die britischen Politiker hinken der öffentlichen Meinung weit hinterher.“
Verhofstadt kann für sein vernichtendes Urteil vor allem wirtschaftliche Belege anführen. So forscht das politische Establishment in London zwar permanent nach den Ursachen der aktuellen Wirtschaftskrise und nach Wachstumsideen.
Notenbanker beklagen enormen Produktivitätsverlust
Den Brexit als einen der wichtigsten Gründe für den Niedergang aber will bislang kein führender Politiker infrage stellen. „Die Tories wollen nicht darüber reden, Labour will es nicht, die Gewerkschaften und der Industrieverband CBI wollen es nicht, und auch die nationalen Fernsehsender meiden das Thema“, konstatiert der ehemalige britische Finanzminister George Osborne.
Dabei haben inzwischen sogar die britischen Notenbanker eine Schadenbilanz des Brexits vorgelegt. Nach Berechnungen von Jonathan Haskell, externes Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der Bank of England (BoE), habe der EU-Austritt viele private Investitionen „im Keim erstickt“. Er bezifferte den dadurch entstandenen Produktivitätsverlust auf 29 Milliarden Pfund – oder 1000 Pfund pro Haushalt.
Seine Kollegin Cathrine Mann macht den Brexit mitverantwortlich für die hartnäckig hohe Inflation von immer noch rund zehn Prozent in Großbritannien. „Kein anderes Land hat sich dafür entschieden, seinen engsten Handelspartnern einseitig Handelsschranken aufzuerlegen“, sagt die Ökonomin.
Nach Voraussage des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist Großbritannien beim Wirtschaftswachstum in diesem Jahr das Schlusslicht unter den großen Industrienationen. Nicht an allem ist der Brexit schuld. Das Königreich leidet seit Jahrzehnten an chronisch schwachen Investitionen und niedriger Produktivität.
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James Smith von der niederländischen Großbank ING in London erwartet durch die Einigung über Nordirland keine substanzielle Verbesserung der englischen Krankheiten. „Die wirtschaftlichen Auswirkungen auf die britische Wirtschaft insgesamt dürften vernachlässigbar sein“, schreibt er. Auch ein Schub für mehr Investitionen sei nicht zu erwarten – auch weil der Brexit nur eine von mehreren Unsicherheiten sei, die das Investitionsklima belasteten.
Sunak versucht, den „Brexit-Kater“ in der Wirtschaft mit der Vision von einer „Innovation Nation“ zu vertreiben. Doch Großbritannien schwächelt selbst in seiner Paradedisziplin „Life Sciences“: Der Pharmakonzern Astra-Zeneca will sein neues Werk für 360 Millionen Dollar nicht mehr wie ursprünglich geplant in Nordengland, sondern in Irland bauen.
Konzernchef Pascal Soriot begründete die Entscheidung vor allem mit den Unternehmensteuern in Großbritannien, die Sunak aus Geldmangel drastisch erhöhen will. Emma Walmsley, Chefin des Pharmariesen Glaxo-Smithkline, hatte zuvor bereits gewarnt, die Forschungsnation Großbritannien befinde sich an einem gefährlichen Wendepunkt.
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Auch bei der Batterieproduktion, einer weiteren Zukunftstechnologie, bei der die Briten Weltspitze sein wollen, gab es kürzlich einen herben Rückschlag: Das Start-up Britishvolt, das im Norden Englands eine Gigafactory für Elektrofahrzeuge geplant hatte und das die Regierung dabei mit einem dreistelligen Millionenbetrag unterstützen wollte, ging pleite und wurde nun an den australischen Investor Recharge verkauft.
Dass in Ditchley jetzt erstmals hochrangige Politiker von beiden Seiten der Brexit-Debatte das Schweigen gebrochen haben und über Auswege aus der wirtschaftlichen Misere nach dem Austritt nachdachten, macht das Treffen so gefährlich.
Die Tatsache, dass die illustre Runde sich im Geheimen treffen musste, zeigt aber auch, wie schwierig ein offener Diskurs über eine ehrliche Bilanz fast sieben Jahre nach dem Referendum immer noch ist.
Tories und Labour haben Angst vor den Wählern
„Die Führungen beider Parteien schauen auf die nächsten Wahlen, und keiner will die Minderheit der harten Brexit-Befürworter vergraulen“, erklärt Heseltine die Mauer des Schweigens. Dabei haben die Parteispitzen ganz andere Mauern im Kopf: Labour möchte verloren gegangene Unterhaussitze in der sogenannten „Red Wall“ der nordenglischen Industrieregionen zurückgewinnen, die 2016 mehrheitlich für den EU-Austritt und 2019 für die Tories gestimmt haben.
Die Konservativen, die in den Meinungsumfragen etwa 20 Prozentpunkte hinter der Opposition zurückliegen, brauchen nicht nur die ehemaligen Labour-Hochburgen für einen Wahlsieg. Sie dürfen auch ihre Stammwähler im konservativen Süden, der sogenannten „Blue Wall“, nicht enttäuschen. Für viele von ihnen ist die EU bis heute ein Anathema.
Ob es aus der politischen Sackgasse, in die sich das Land selbst hineinmanövriert hat, einen politischen Ausweg vom Bedauern zur Umkehr gebe, sei die entscheidende Frage, sagt Heseltine. Der Tory-Veteran, der einst die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher herausforderte und entscheidend zu ihrem Sturz beitrug, ist skeptisch: „Dafür brauchen wir einen Generationswechsel. Nur so bekommen wir das positive Momentum, um in die EU zurückzukehren.“ Und die Briten bräuchten noch mehr Belege, welche wirtschaftlichen Nachteile der Brexit mit sich bringe.
Die lieferte diese Woche unfreiwillig Rishi Sunak, als er seinen Deal mit Brüssel in Nordirland politisch verkaufen wollte. „Nordirland befindet sich in einer weltweit einzigartigen Position, da es nicht nur privilegierten Zugang zum britischen Binnenmarkt hat, (…) sondern auch zum Binnenmarkt der Europäischen Union“, betonte der britische Premier. Viele Briten haben sich danach gefragt, warum eigentlich nur die Nordiren und nicht auch der Rest des Königreichs die Vorteile der EU genießen dürfen.
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