Stockholm So entspannt wie in der Nacht auf Montag hat man die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas selten gesehen. Als kurz nach Mitternacht feststand, dass ihre wirtschaftsliberale Reformpartei einen klaren Wahlsieg errungen hatte, trat die 45-Jährige vor die Mikrofone. „Unsere Kandidaten haben alle einen tollen Job gemacht“, erklärte sie unter dem Jubel ihrer Parteifreunde. Das gilt auch für sie selbst: Sie erzielte knapp 32.000 Stimmen in ihrem Wahlkreis – das hat keiner ihrer Vorgänger je geschafft.
Die Reformpartei errang 37 der 101 Sitze im estnischen Parlament – ein Plus gegenüber den letzten Wahlen von drei Mandaten. 31 Prozent der Wählerinnen und Wähler gaben der Partei ihre Stimme. Kallas Partei stellt damit weiterhin die größte Fraktion im Parlament und wird aller Voraussicht nach auch die nächste Regierung anführen. Zweitstärkste politische Kraft wurde die rechtspopulistische Partei Ekre, die zwei Sitze verlor.
Erstmals zog die liberale Partei Eesti 200 in den Riigikogu, das Parlament in Tallinn, ein. Die Partei erreichte direkt 14 Mandate und könnte einer der Koalitionspartner für Kallas werden. Die bisherigen Koalitionsparteien, die Sozialdemokraten und die konservative Partei Isamaa, mussten beide Verluste einstecken. Zusammen mit der Reformpartei ist aber rechnerisch eine Fortführung der bisherigen Koalition möglich. „Eines ist klar: Die Wähler wollen, dass die Reformpartei wieder die Führung in einer neuen Regierung übernimmt“, betonte Kallas noch in der Wahlnacht. Sie werde in den kommenden Tagen alle Optionen ausloten.
Sie hat sich als Unterstützerin der Ukraine einen Namen gemacht
Seit Russland in die Ukraine einfiel, hat sich die Juristin als eine der stärksten Befürworterinnen für die Unterstützung der Ukraine profiliert. Immer wieder forderte sie in den vergangenen Monaten schnellere und umfangreichere Waffenlieferungen an das angegriffene Land. Auch tritt sie resolut für eine Stärkung der Nato-Ostflanke ein. Und sie ist eine der lautesten Stimmen für schärfere Sanktionen gegen Russland.
In die internationalen Schlagzeilen schaffte sie es im vergangenen Jahr mit ihrer Forderung nach einem Einreiseverbot für russische Touristen. „Tourismus ist ein Privileg, kein Menschenrecht, und dieses Privileg gehört nicht den Bürgern eines Landes, das einen völkermörderischen Krieg gegen die Ukraine führt“, erklärte Kallas.
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Ihr Misstrauen gegenüber dem großen Nachbarn, mit dem das EU- und Nato-Land Estland eine rund 300 Kilometer lange Grenze teilt, ist verständlich: Die Geschichte ihres bis 1990 von der Sowjetunion annektierten Landes, aber auch ihrer eigenen Familie hat sie geprägt. Ihre Mutter und Großmutter wurden 1949 von den Sowjets nach Sibirien deportiert, ein Ereignis, das Kallas bis heute beschäftigt. Und so spielte die geopolitische Lage auch im Wahlkampf eine große Rolle.
Immer wieder forderte sie in den vergangenen Wochen mehr Solidarität mit der Ukraine. Ihr kleines Land mit gerade einmal 1,3 Millionen Einwohnern hat vorgelegt und 60.000 Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen – gemessen an der Bevölkerungszahl mehr als jedes andere Land. Auch bei der militärischen Unterstützung der Ukraine nimmt das Land einen Spitzenplatz ein: Über ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts gibt Estland für die Militärhilfe aus.
Kallas hat während des Wahlkampfs keinen Zweifel daran gelassen, dass sie diesen Kurs der bedingungslosen Unterstützung der Ukraine beibehalten werde. Sie grenzte sich damit deutlich von den Forderung der rechtspopulistischen Ekre-Partei ab, die die Hilfen für die Ukraine kürzen will und auch Stimmung gegen die ukrainischen Flüchtlinge in Estland machte. Die Wähler haben dieser Position eine Absage erteilt.
Möglicherweise wird das Wahlergebnis noch überprüft
Noch will die Parteiführung von Ekre die Niederlage nicht anerkennen. Man werde möglicherweise vor Gericht eine Überprüfung der digital abgegebenen Stimmen beantragen, erklärte der Vorsitzende Martin Helme noch in der Wahlnacht.
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Estland war das erste Land der Welt, das bereits 2005 die Stimmabgabe per Internet zuließ. Insgesamt wurde mehr als die Hälfte online abgegeben. Beobachter in Tallinn erwarten auch bei einer Überprüfung der online abgegebenen Stimmen keine großen Veränderungen des Wahlergebnisses.
Während Kallas im Ausland große Anerkennung genießt und zuletzt sogar als mögliche Nachfolgerin für Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg gehandelt wurde, ist sie in ihrem eigenen Land nicht unumstritten. Die hohe Inflation von rund 18 Prozent macht vielen Bürgern zu schaffen.
Es wird eine der wichtigsten Aufgaben ihrer neuen Regierung sein, die Preissteigerungen in den Griff zu bekommen. Ein weiteres heikles Problem ist der Umgang mit der russisch-sprachigen Minderheit in Estland, die rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmacht. Viele von ihnen fühlen sich seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ausgegrenzt.
Kallas wird viel Fingerspitzengefühl benötigen, um die Spaltung der estnischen Gesellschaft zu überwinden.
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