Berlin Kürzlich hat Johannes Vogel Australien besucht. Nicht als Urlauber, sondern um zu lernen, was Deutschland sich von einem der gefragtesten Einwanderungsländer abschauen kann. In Australien, Kanada oder Neuseeland mache die selbst organisierte Migration mehr als 60 Prozent der arbeitsmarktbezogenen Einwanderung aus, sagt der FDP-Vize.
Soll heißen: Das Gros der Erwerbsmigranten kommt ohne Arbeitsvertrag in der Tasche über ein Punktesystem ins Land und schaut sich dann nach einem geeigneten Job um. „Das zeigt, wie wichtig es ist, auch in Deutschland mit dem Punktesystem ein echtes Angebot zu schaffen“, sagt Vogel.
Der Parlamentarier spielt damit auf die sogenannte Chancenkarte an, die Teil der von der Bundesregierung geplanten Einwanderungsreform ist. Ob das Punktesystem, auf dem die Karte basiert, aber ähnliche Erfolge bringt wie in Australien oder Kanada, bezweifeln Experten.
„Die Frage ist, ob nicht zwischen dem administrativen Aufwand für das geplante Punktesystem und dessen doch sehr begrenztem Anwendungsbereich ein Missverhältnis besteht“, sagt der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR), Hans Vorländer.
Der Rat, der sich ähnlich wie die sogenannten Wirtschaftsweisen als Regierungsberater versteht, ist zusammen mit Sozialpartnern und Verbänden eingeladen, Stellung zu den Reformplänen der Ampel zu beziehen. Die Frist läuft an diesem Mittwoch ab, nachdem die Bundesregierung sie nach Kritik am geforderten Tempo um eine Woche verlängert hat.
Was Vorländer an dem geplanten Punktesystem stört: Es zielt allein auf den Bereich der Arbeitsplatzsuche, der aber „in seiner praktischen Bedeutung tendenziell überschätzt“ werde. Wer Berufserfahrung, ein junges Lebensalter und Sprachkenntnisse mitbringt und dafür eine ausreichende Punktzahl sammelt, darf einreisen, um sich in Deutschland einen Job zu suchen.
Das neue Punktesystem bedeutet einen großen administrativen Aufwand, obwohl Möglichkeiten für die Einreise zur Arbeitsplatzsuche schon seit mehr als zehn Jahren existieren und durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Großen Koalition noch ausgeweitet wurden.
Außerdem können sich Einwanderungsinteressenten das Sammeln von Punkten sparen, wenn sie einen Arbeitgeber in einem virtuellen Vorstellungsgespräch für sich begeistern oder sich im Rahmen eines normalen Schengenvisums auf Jobsuche in Deutschland begeben. Der erhoffte Nutzen, so Vorländer, rechtfertige also kaum den Aufwand.
Auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) äußert Zweifel an der Wirksamkeit der Chancenkarte: Nicht alle Länder hätten eine staatlich anerkannte Berufsbildung, was den Kreis möglicher Herkunftsstaaten einschränke, schreibt er in seiner Stellungnahme.
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Außerdem müssten Interessenten nachweisen, ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Der DGB erwarte deshalb, „dass die Chancenkarte nur eingeschränkt attraktiv sein wird und somit kaum positive Auswirkungen auf die Fachkräfteeinwanderung haben wird“. FDP-Vize Vogel will das so nicht stehen lassen. Es gebe einen globalen Wettbewerb um Talente. „Das Punktesystem ist ein klares Signal, dass Deutschland sich diesem Wettbewerb stellt.“
Zweites zentrales Element der Reform ist, dass künftig weniger Wert auf formale Qualifikationen und mehr auf Berufserfahrung gelegt werden soll. Bewerber, die in ihrer Heimat eine mindestens zweijährige Berufsqualifikation erworben haben und eine gewisse Berufserfahrung mitbringen, sollen in Deutschland arbeiten dürfen, ohne dass erst die Gleichwertigkeit mit einem deutschen Abschluss geprüft werden muss.
Vogel hält das für einen großen Fortschritt. Auch in Australien habe man im Laufe der Zeit die Ansprüche an die Gleichwertigkeit von Abschlüssen weiter heruntergeschraubt, weil diese Bürokratie das Tempo hemme, berichtet er von seinen Reiseerfahrungen. „Ob die jeweilige Qualifikation gebracht wird, prüfen ja die Unternehmen.“
Auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) nennt die stärkere Gewichtung der Berufserfahrung „einen notwendigen Paradigmenwechsel“. Allerdings sei aus Sicht der Unternehmen eine flexiblere Handhabung wichtig, damit nicht Fachkräfte mit etwas kürzerer Ausbildung ausgeschlossen würden, obwohl sie die nachgefragte Berufserfahrung mitbrächten.
Ganz verzichten will die Bundesregierung auf formale Qualifikationen aber nicht. Die ohnehin überlasteten deutschen Einwanderungs- und Arbeitsbehörden werden deshalb zwar bei der Gleichwertigkeitsprüfung entlastet. Dafür sollen sie nun aber checken, ob vorgelegte Zertifikate und Bescheinigungen über im Ausland erworbene Qualifikationen stichhaltig sind.
„Es besteht die Gefahr, dass mit dieser Prüfpflicht ein neuer Flaschenhals im Verwaltungsprozess etabliert wird“, warnt Vorländer. Ob durch die stärkere Gewichtung der Berufserfahrung also tatsächlich die Zuzugszahlen ausländischer Arbeitskräfte im erforderlichen Ausmaß gesteigert werden können, bleibe abzuwarten.
50.000 Zuwanderer erwartet
Die Bundesregierung selbst hängt die Erwartungen an ihre Reform eher niedrig. In der Gesetzesbegründung geht sie davon aus, dass sich die Zahl qualifizierter Erwerbsmigranten aus Drittstaaten jährlich um 50.000 erhöhen wird. Zusammen mit weiteren Erleichterungen wie der Entfristung der Westbalkanregelung sollen es 65.000 sein. Vor Beginn der Coronapandemie kamen rund 64.000 Erwerbsmigrantinnen und -migranten aus Nicht-EU-Staaten nach Deutschland, 2021 waren es gut 40.000.
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Ganz auf den Nachweis von Abschlüssen zu verzichten, hält der Sachverständigenrat aber für falsch. Setze man auf dem noch stark an Zeugnissen und Zertifikaten orientierten deutschen Arbeitsmarkt allein auf Berufserfahrung, drohe eine noch stärkere Segmentierung.
Den Eingewanderten ohne formalen Abschluss seien irgendwann möglicherweise Karrierewege im eigenen Unternehmen oder Arbeitgeberwechsel verbaut. Auch der DGB mahnt, Menschen aus Drittstaaten müssten viel stärker vor Arbeitsausbeutung geschützt werden.
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