Istanbul Mehmet Akif Ersoy gilt nicht gerade als Journalist, der die türkische Regierung bei jeder Gelegenheit angreifen würde. Doch als er bloß seinen Job machte – nämlich zu beschreiben, was er sah –, geriet der beliebte Moderator des Fernsehsenders Habertürk unter Beschuss.
Ersoy stand nach dem verheerenden Erdbeben in der am schlimmsten betroffenen Region Hatay vor der Kamera und erklärte live, dass so manche staatliche Hilfe in einigen Orten spät angekommen sei. Das hat inzwischen selbst Präsident Recep Tayyip Erdogan zugegeben und sich für die anfangs schleppende Hilfe entschuldigt. Trotzdem beschimpften Nutzer in sozialen Medien den Journalisten als einen Verräter.
Er sei verbal massiv angegriffen worden, sagte Ersoy anschließend dem Nachrichtenportal Al-Monitor. „Ich habe berichtet, was ich gesehen habe, und dabei auf die Stimme meines Gewissens geachtet“, so der Journalist. „Ich gehöre weder zu denen, die sagen, ‚der Staat war abwesend‘, noch zu denen, die sagen, ‚der Staat hat sein Bestes getan‘.“
Doch Ersoy musste das erleben, was gerade auch viele seiner Kolleginnen und Kollegen berichten: Nach den Erdbeben von Anfang Februar und zwei Monate vor den wichtigen Wahlen um die Führung des Landes wird die freie Berichterstattung für Medien in der Türkei immer schwieriger. Während Regierungskritiker sowie Opfer und Angehörige im schwer betroffenen Gebiet im Südosten des Landes die Regierung in Ankara eines schwachen Krisenmanagements bezichtigen, will diese das Unglück als reine Naturkatastrophe darstellen, der man machtlos gegenüberstehe.
Immer mehr Zeitungen und Fernsehsender schildern, dass sie eingeschüchtert werden oder von Aufsichtsbehörden Strafen wegen kritischer Kommentare auferlegt bekommen. „Die Erfahrungen nach dem Beben geben Hinweise darauf, welche Mittel der Zensur Ankara im Vorfeld der spätestens im Juni anstehenden Wahlen anwenden könnte“, sagt der türkische Journalist Fehim Tastekin.
Notstand gibt Medienaufsicht erhebliche Eingriffsrechte
Gelegen kommt der Erdogan-Regierung dabei, dass sie in den elf von den Erdbeben betroffenen Provinzen den Notstand ausgerufen hat. Damit hat Ankara auch die Macht, die Berichterstattung zu unterbinden oder zumindest in sie einzugreifen.
So blockierte die Medienaufsicht zwei Tage nach der Katastrophe den Kurznachrichtendienst Twitter – und das, obwohl zur selben Zeit Überlebende in den Trümmern diese Plattform dazu nutzten, um auf sich aufmerksam zu machen.
Später wurde die türkische Social-Media-Plattform Eksi Sözlük, auf der Nutzerinnen und Nutzer kritische Kommentare veröffentlicht hatten, zeitweilig gesperrt. Dabei hilft auch ein kürzlich eingeführtes Gesetz, das Gefängnisstrafen für die Verbreitung von „Fake News“ vorsieht.
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Journalisten sehen darin eine Aufforderung zur Selbstzensur. So erklärte Präsident Recep Tayyip Erdogan in seiner ersten Ansprache nach der Katastrophe, dass diejenigen, die versuchen, „Fake News und verzerrte Berichterstattung“ zu verbreiten, genau überwacht würden. „Wir werden uns diesen Personen widmen, wenn die Zeit gekommen ist“, drohte er.
Vier Journalisten wurden bereits im Erdbebengebiet vorläufig festgenommen. Ihnen wurde unter anderem vorgeworfen, ohne einen von der Regierung ausgestellten Presseausweis im Erdbebengebiet Filmaufnahmen gemacht und Personen befragt zu haben, die die Reaktion der Regierung auf das Erdbeben kritisierten. Später wurden die Journalisten wieder freigelassen.
Eine Reihe von Medienvertretern berichtet außerdem von Bedrohungen und Behinderungen durch die Polizei. Ein Journalist, der namentlich nicht genannt werden möchte, erklärte, dass bei einer Kontrolle im Erdbebengebiet Teile seiner Ausrüstung zerstört worden seien. Ein weiterer Berichterstatter behauptet laut dem Journalisten Tastekin, er sei von einem axtschwingenden Regierungsanhänger bedroht worden.
Regierung sucht die Deutungshoheit über das Erdbeben
Unabhängige Medien haben es ohnehin schon schwer in der Türkei. In die polarisierte Gesellschaft hat sich seit dem Machtausbau von Präsident Erdogan ein starker Staat eingenistet. Der wird immer häufiger aktiv, wenn es darum geht, die öffentliche Meinung zu steuern.
So beschreibt die Administration in Ankara die Erdbebenserie als „Katastrophe des Jahrhunderts“. Das ist angesichts des Ausmaßes kaum übertrieben. Kritiker sehen darin jedoch zugleich den Versuch der Regierung, die Deutungshoheit über die Katastrophe zu übernehmen und Verantwortung von sich zu weisen. Dazu passt, dass von Ankara kontrollierten Medien wie etwa dem Staatssender TRT oder der staatlichen Nachrichtenagentur laut Tastekin seit Wochen vorgeschrieben wird, wie sie über die Tragödie berichten sollten.
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Tatsächlich zeigten viele Nachrichtensender in den ersten zwei Wochen nach dem Erdbeben vor allem stundenlange Livesendungen darüber, wie Helferinnen und Helfer im Erdbebengebiet Überlebende aus den Trümmern zu bergen versuchten. Kritische Stimmen dagegen wurden kaum zugelassen.
Ein Journalist schob etwa während einer Live-Schalte einen Mann beiseite, der kurz davor ins Kamerabild gelaufen war. „Ich möchte sprechen!“, hatte dieser gerufen und hinzugefügt: „Sechs Tage nach dem Erdbeben haben wir immer noch kein Zelt.“
„Viele Medien haben den Begriff ‚Katastrophe des Jahrhunderts‘ übernommen, um die Verantwortung der Regierung zu verschleiern und der Öffentlichkeit die Vorstellung einzuflößen, dass die Beben jede Regierung überwältigt hätten“, vermutet Tastekin. Menschen, die sich über den Mangel an Such- und Rettungsteams oder Hilfskräften beschweren, fehlten weitgehend in ihrer Berichterstattung.
Kritische Sender erhalten Strafen
Die wenigen unabhängigen Fernsehsender werden derweil für kritische Berichterstattung von der Rundfunkaufsicht mit Strafen überhäuft. Der äußerst regierungskritische Fernsehsender Halk TV muss eine Geldstrafe in Höhe von fünf Prozent seiner monatlichen Werbeeinnahmen bezahlen.
Zuvor hatte der Sender kritische Kommentare eines Abgeordneten der Opposition gesendet. Außerdem darf Halk TV die nächsten fünf Ausgaben des fraglichen Programms nicht senden.
Der Sender wurde separat für eine andere Sendung bestraft, in der die Reaktion der Regierung auf die Beben kritisiert wurde. Die Fernsehsender Tele1 und Fox wurden mit ähnlichen Geldstrafen und Programmverboten belegt.
Selbst im Nationalsport Fußball scheint Kritik mittlerweile unerwünscht. Bei mehreren Fußballspielen riefen Fans nach dem Erdbeben „Regierung, tritt zurück!“. Der Verein Fenerbahce Istanbul wurde anschließend dafür bestraft: Beim folgenden Auswärtsspiel des Klubs durften keine Fans des Teams ins Stadion.
Beobachter sehen als Grund dafür vor allem die bevorstehenden wichtigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Seit wenigen Wochen zieht die Regierung wieder die Zügel an. Umfragen zeigen ein gemischtes Bild, wenn es um die mögliche Wiederwahl Erdogans geht.
Zwar steigt der türkische Präsident nach der Kritik an seinem schwachen Krisenmanagement inzwischen wieder in der Gunst der Wählerschaft, weil er schnellen Wiederaufbau verspricht und die Opposition zerstritten ist. Trotzdem kommt ihm gerade in der nun beginnenden heißen Wahlkampfphase kritische Berichterstattung äußerst ungelegen.
Womöglich merken das auch seine Anhänger. Als Fernsehmoderator Ersoy auf Twitter zur Ursache der Erdbeben schrieb, dass Türkinnen und Türken „auch nach 1000 Jahren in dieser Region den Hausbau“ nicht gelernt hätten, erhielt er zahlreiche kritische Kommentare.
Eine Frau fragte ihn, ob er mit dem Satz die Nationalhymne der Türkei umdichten wolle – eine Anspielung darauf, dass Ersoy exakt denselben Namen hat wie der Komponist der Hymne. Ein anderer Twitter-Nutzer fragte hämisch, ob Ersoy nicht wisse, dass Anatolien schon seit 7000 Jahren von Türken bewohnt sei.
Mehr: Warum die türkische Opposition an sich selbst scheitert
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