Berlin Die kräftige Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro hat trotz der hohen Preissteigerungsraten die Kaufkraft im Niedriglohnsektor in Deutschland deutlich erhöht. In vielen anderen Ländern reichte die erfolgte Anpassung der Lohnuntergrenze dagegen nicht aus, um die Inflation auszugleichen.
Das geht aus dem neuen Internationalen Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung hervor. Demnach sind die Stundenlöhne von Beschäftigten, die zum Mindestlohn arbeiteten, zwischen Anfang 2022 und Anfang 2023 inflationsbereinigt um 12,4 Prozent gestiegen.
Arbeitnehmer haben dabei gleich von zwei Erhöhungen profitiert. Im Juli 2022 stieg die Lohnuntergrenze von 9,82 Euro auf 10,45 Euro. Dieser Schritt beruhte noch auf der Entscheidung der mit Vertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften besetzten unabhängigen Mindestlohnkommission.
Per Gesetz hob die Bundesregierung den Mindestlohn dann ab Oktober weiter auf zwölf Euro an. Insgesamt ist er also von Januar bis Oktober 2022 um gut 22 Prozent angestiegen.
Die daraus resultierende reale Lohnsteigerung wird in keinem anderen EU-Land auch nur annähernd erreicht. Nach Deutschland ist die Kaufkraftsicherung am besten in Bulgarien gelungen, wo von einer kräftigen nominalen Mindestlohnanpassung von 20,4 Prozent unter dem Strich aber nur 6,5 Prozent übrig blieben. In Lettland waren es real 5,8 Prozent, in Rumänien 5,0 Prozent und in Belgien 4,8 Prozent.
In knapp der Hälfte der 22 EU-Länder mit Mindestlöhnen erlitten die Beschäftigten trotz teilweise zweistelliger nominaler Erhöhungen der Lohnuntergrenze binnen Jahresfrist real Kaufkraftverluste. Am stärksten fielen diese in Estland (minus 6,7 Prozent), Tschechien (minus 6,2 Prozent) und der Slowakei (minus 3,4 Prozent) aus. Im Mittel (Median) wurden die Mindestlöhne in der EU nominal um zwölf Prozent angehoben, wovon nach Abzug der Preissteigerung aber nur 0,6 Prozent übrig blieben.
Inflationsbekämpfung durch Mindestlohnerhöhung gelungen
Mit zwölf Euro pro Stunde ist Deutschland nun in der EU auf Rang zwei aufgestiegen hinter Luxemburg, wo Unternehmen ihren Beschäftigten mindestens 13,80 Euro zahlen müssen. Zuvor hatte die Bundesrepublik seit Einführung des Mindestlohns immer auf Platz sechs gelegen.
Als armutsfest gilt eine Lohnuntergrenze, die bei mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns (Median) im jeweiligen Land liegt. Nach fortgeschriebenen Daten der Industrieländerorganisation OECD dürfte Deutschland diese Schwelle mittlerweile knapp überschritten haben, schreibt das WSI.
Nach Angaben des Europäischen Statistikamts Eurostat kommt Deutschland dagegen nur auf 53,2 Prozent. Die Unterschiede erklären sich dadurch, dass OECD und Eurostat für die Berechnung des Medianlohns von einer unterschiedlichen Wochenarbeitszeit ausgehen.
>> Lesen Sie hier: Gewerkschaften kritisieren schlechte Arbeitsbedingungen für Saisonarbeiter – und fordern mehr Kontrollen
Zwar sei in Deutschland die Inflationsbekämpfung bei Geringverdienern durch die kräftige Mindestlohnanhebung gelungen, schreiben die WSI-Forscher Malte Lübker und Thorsten Schulten. Dabei handele es sich allerdings nur um eine Momentaufnahme.
Denn da die nächste Mindestlohnanpassung erst zum Januar 2024 vorgesehen sei, werde ein Teil des Zuwachses durch die weiterhin hohe Inflation in diesem Jahr aufgezehrt. Beschäftigte in Frankreich, den Niederlanden oder Belgien profitierten dagegen davon, dass die Lohnuntergrenze dort auch unterjährig erhöht werde.
Der Co-Vorsitzende der SPD-Linken, Sebastian Roloff, brachte deshalb eine weitere Erhöhung des Mindestlohns ins Spiel. „Wir müssen weiter diejenigen besonders entlasten, die von der Inflation am stärksten betroffen sind. Die Erhöhung des Mindestlohns wäre eine effektive Maßnahme hierfür“, sagte der Bundestagsabgeordnete dem Handelsblatt.
Roloff hält zudem eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Produkte des täglichen Lebens für sinnvoll. „Zur nötigen Gegenfinanzierung kann man gern auch über höhere Belastungen für die besonders Vermögenden in unserer Gesellschaft sprechen“, sagte er.
>> Lesen Sie hier: Österreichs Notenbankchef – „Es dauert noch sehr lange, bis die Inflation zurückgeht“
Der Präsident des Münchener Ifo-Instituts, Clemen Fuest, lehnt Umsatzsteuersenkungen zur Entlastung bedürftiger Gruppen ab. Es sei unklar, ob und in welchem Umfang die Steuersenkungen an die Konsumenten weitergegeben würden, sagte Fuest dem Handelsblatt.
Zudem sei die große Mehrzahl der Konsumenten nicht bedürftig, profitiere aber trotzdem von den Steuersenkungen. „Der Staat verliert viel Steueraufkommen, um einen relativ kleinen Entlastungseffekt bei Menschen mit niedrigen Einkommen zu erzielen.“
Bundesregierung will Mindestlohn nicht erneut per Gesetz erhöhen
Auch eine mögliche Mindestlohnerhöhung sieht Fuest kritisch. Er erinnerte daran, dass der Mindestlohn im Laufe des Jahres 2022 schrittweise von 9,82 Euro pro Stunde auf zwölf Euro erhöht worden sei, also um rund 22 Prozent. „Damit gehören Mindestlohnempfänger zu den wenigen Gruppen in Deutschland, die reale Einkommenszuwächse erzielen.“
>> Lesen Sie hier: Verbraucher werden wieder zuversichtlicher – Staatliche Hilfen stabilisieren Einkommen und Konsum
Die Bundesregierung hatte ohnehin betont, dass die gesetzliche Anhebung der Lohnuntergrenze auf zwölf Euro eine einmalige Angelegenheit sein soll und danach wieder die unabhängige Mindestlohnkommission übernimmt. Das paritätisch mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern besetzte Gremium muss im Sommer über die Anpassung zum 1. Januar 2024 entscheiden. Dabei orientiert es sich unter anderem an der Lohnentwicklung.
Da diese aber momentan deutlich hinter der Preisentwicklung zurückbleibe, müsse man den Anpassungsmechanismus überarbeiten, wenn man die Kaufkraft erhalten wolle, schreiben die WSI-Forscher. Das oft reflexartig gebrachte Argument, Mindestlohnerhöhungen würden die Inflationsdynamik noch verschärfen, sei irreführend.
Zum einen hätten Mindestlöhne angesichts ihrer niedrigen Höhe meist nur einen relativ geringen Einfluss auf die Lohnentwicklung insgesamt. Zum anderen trügen steigende Nominallöhne nur in dem Maße zur Inflation bei, in dem Unternehmen auf die dadurch verursachten Kostensteigerungen mit Preisanhebungen reagierten.
Mehr: Bundesregierung prüft Pflicht zur elektronischen Arbeitszeiterfassung für Mindestlohnbranchen
<< Den vollständigen Artikel: Arbeitsmarkt: Kräftige Mindestlohnanhebung hat Geringverdienern deutliches Kaufkraftplus gebracht >> hier vollständig lesen auf www.handelsblatt.com.